Vom Schreibtisch auf die Bühne
Seit der Web-2.0-Dienst Chatroulette vergangenen November online gegangen ist, sorgt er für Aufregung. Das Prinzip ist denkbar einfach: Zwei Besucher der Seite werden per Zufallsgenerator miteinander verbunden und können über ein Video-Interface miteinander plaudern.
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Was der 17-jährige Russe Andrej Ternowski ursprünglich für sich und seine Freunde entworfen hat, wurde bald zum Selbstläufer. Schon im Februar soll das Service täglich bis zu 500.000 User angelockt haben, Medien wie die „New York Times“ berichteten darüber. Der Kick dabei: Im besten Fall kommt ein nettes Gespräch mit völlig Fremden zustande. Im Normalfall dauert der Sichtkontakt selten länger als eine Sekunde - weil beide Benutzer die Möglichkeit haben, auf „weiter“ zu klicken. Exhibitionisten nutzen Chatroulette besonders gerne, weshalb man nicht selten onanierende Menschen zu Gesicht bekommt.
Die Auswüchse sind vor allem der kompletten Anonymität der Website gedankt. Und genau hier hakte der Pop- und Folk-Musiker Ben Folds ein, als er die Chatroulette-User kürzlich bei einem Konzert in Charlotte, der größten Stadt im US-Bundesstaat North Carolina, vor 2.000 Menschen an die Rückwand der Bühne projizieren ließ. Folds trat samt Piano und improvisierten Texten in Kommunikation mit den Chatpartnern. Einem, der sichtlich schlecht gelaunt im Bett liegt, singt er vor: „Bist du traurig? Wir sind gekommen, deine Stimmung zu heben! Sei nicht traurig! 2.000 Menschen hier in Charlotte wollen dich glücklich sehen!“
Überraschte User auf der Leinwand
Die Menge kreischt, die traurige Gestalt winkt und lächelt erfreut. Die Menge winkt brav zurück. Experiment geglückt. Weiter zum nächsten User. Jemand hält einen beschriebenen Zettel vor die Kamera, auf dem verkehrt herum steht: „Wenn Du Deinen Kopf umlegst, habe ich gewonnen.“ Folds legt seinen Kopf seitlich und singt: „Du hast gewonnen.“ Das Publikum kreischt mit und skandiert den Namen von Bobby. Bobby kann sein Glück nicht fassen und strahlt via Webcam ins Publikum.
Der Nächste sitzt auf dem Klo. „Hey man, sitting on the toilet with your toilet roll!“ Der rockt mit auf seiner Klobrille, grinst breit und tippt auf den Screen: „You guys love you.“ Folds singt: „We love you, too, Bam. God bless you, Bam.“ „Bam“ steht auf dem T-Shirt des Klositzers. Die Menge ist begeistert. Zwei weitere Chatroulette-User treten mit nacktem Oberkörper auf. Der eine klickt sich geniert weg, der andere aber nimmt es mit Humor, macht auf sexy und tanzt, als träte er im Nachtclub auf. „He du in deiner weißen Unterhose ...“
Urheberrechtsrätsel und Verdachtsmomente
Ähnlich genial wie Ben Folds ist Merton, dessen Videos ebenfalls auf YouTube zu sehen sind. Er macht dasselbe wie Folds, nur ohne Publikum. Hinreißend sind etwa die drei Mädchen, die er besingt, vom Piano begleitet. Folds ließ sich für seine Konzertperformance von Merton inspirieren und nannte sie sogar „Ode to Merton“. Vielleicht ist Merton aber auch einfach das Online-Alias von Folds, was Merton in einem YouTube-Begleittext jedoch vehement bestreitet.
Die Videos von Folds und Merton sind übrigens Fundstücke aus der Blogosphäre und unter anderem auf Nerdcore und Boing Boing verlinkt (mit Millionen Aufrufen als Folge). Während Mertons Identität unklar ist, macht der 43-jährige Folds bereits seit den späten 80er Jahren Musik. Nach einigen Engagements bei Popgruppen gründete der Multiinstrumentalist die Piano-lastige Alternative-Rockband Ben Folds Five, mit der er bis 1999 erste Erfolge feierte.
„Punk Rock for Sissies“
Einen Namen machte er sich seither vor allem mit seinem Soloprojekt, tourte bereits unter anderem mit Rufus Wainwright und trat beim legendären Glastonbury Festival auf. Seine Musik hat eine ausgeprägt kitschige Schlagseite. Folds selbst nannte sie vor einiger Zeit in einem Interview mit dem „Sidney Morning Herald“ „Punk Rock for Sissies“, also für nicht besonders maskuline Männer.
Internet-affin ist Folds jedenfalls nicht erst seit seinem Chatroulette-Experiment. Im Herbst 2006 soll er der Erste gewesen sein, der ein Livekonzert auf MySpace gab. Bereits 2002 hatte er drei EPs nur im Internet veröffentlicht, was damals noch einer Pioniertat gleichkam.
Simon Hadler, ORF.at
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