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Wenn Prostituierte Eier legen

Max ist 44 Jahre alt, schwer übergewichtig, jüdischer Atheist, leidet am Asperger-Syndrom und lebt in New York. Mary ist acht Jahre alt, schüchtern und lebt mit ihrer stets besoffenen Mutter in einem australischen Kaff. Die beiden Außenseiter beginnen eine der ungewöhnlichsten Freundschaften der Kulturgeschichte und stehen einander 22 Jahre lang im Kampf gegen das soziale Scheitern bei.

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„Mary und Max“ ist der erste Animationsfilm in Spielfilmlänge von Adam Elliot, der 2004 mit dem Oscar für den besten animierten Kurzfilm ausgezeichnet wurde. Der „Independent“ steht nicht alleine da mit seiner Meinung, dass der Australier Elliot den Animationsfilm für Erwachsene mit seinem neuen Streifen auf eine neue Ebene gehoben hat. „Mary und Max“, eine Knetmasse-Tragikomödie, eröffnete letztes Jahr das Sundance-Festival und räumte alle möglichen Preise ab. Dieser Tage läuft er in heimischen Kinos an.

Alle Menschen haben eine Störung

In verschiedenen Interviews relativierte Elliot die Einblendung am Anfang, wonach der Film auf einer wahren Story basiere. Eher sei er „inspiriert“ worden von seiner eigenen, bereits über 20 Jahre währenden Brieffreundschaft mit einem New Yorker. Getrieben wurde er außerdem von dem Wunsch nach einem Film, in dem er seine wichtigste Message verbreiten kann: Alle Menschen haben eine Störung. Ziel muss sein, seine eigenen Macken und die der anderen zu akzeptieren, wenn nicht lieben zu lernen.

Sherry, ein Tee für Erwachsene

Und tatsächlich liebt man Mary und Max von der ersten Sekunde an. Die kleine Mary ist schüchtern, ein bisschen übergewichtig und nicht gerade hübsch. Ihre Mutter widmet sich einer scheinbar wichtigen Aufgabe: Dem notwendigen, ständigen „Testen“ von Sherry, „einer Art Tee für Erwachsene“, und im Supermarkt „borgt“ sie sich Dinge aus, anstatt sie zu kaufen. Ihr Vater arbeitet am Fließband und verbringt seine Freizeit im Schuppen, wo er Vögel ausstopft, die er irgendwo tot gefunden hat.

Mary Daisy Dinkle hat viele Fragen, aber keinen Ansprechpartner. Zufällig findet sie ein Telefonbuch von New York und sucht sich den nächstbesten Namen aus: Max Jerry Horowitz. Sie schickt ihm einen Brief mit Fragen, etwa: Wo kommen die Kinder in den USA her? Und erzählt aus ihrem Leben. Max reagiert zunächst mit einer Panikattacke - für den Autisten ist das zu viel an Nähe - entschließt sich dann aber doch zu einer Antwort. Bei den Katholiken, schreibt er, würden Nonnen Eier legen, aus denen Kinder schlüpfen, bei den Juden erledige es der Rabbi und bei Atheisten Prostituierte.

Ganz New York aus Knetmasse

Dann erzählt er auch noch von seiner regelmäßigen Teilnahme an der Fettleibigen-Selbsthilfegruppe und über seine Ängste. Mary zeigt Verständnis, und eine Brieffreundschaft entsteht, die ein halbes Leben lang andauern wird. Die Biografien der beiden werden so nach und nach offengelegt, illustriert von den unübertroffenen Bildern (ganz New York aus Knetmasse) des Animationsteams rund um Elliot. Max und Mary scheitern und scheitern, aber sie durchleben auch Glücksmomente und stehen einander bei.

Max, wenn man so will, ist eine radikale Variante von Woody Allens Stadtneurotiker-Figuren und Mary eine nicht minder radikale (viel einsamere) Version von Bridget Jones. Die Story ist mitreißend von der ersten bis zur letzten Einstellung, voll von hinreißenden Charakterstudien (die stets leicht wankende, aufgetakelte, Sherry-abgefüllte Mutter von Mary), himmelschreiend komischem Zynismus und tiefen Gefühlen wie Liebe, Zorn, Freundschaft, Angst und Trauer. In einem Internetforum schreibt ein User, „Mary und Max“ sei einer jener Filme, die einem ein Leben lang in Erinnerung bleiben. Das könnte zutreffen - und zwar nicht nur als „guter Animationsfilm“, sondern als herausragender Film mit Massenappeal und Kunstanspruch.

Simon Hadler, ORF.at

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