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Seitensprünge der Geschichtsschreibung

„Ein Buch der Abirrungen“ nennt der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß sein nun im Zsolnay Verlag erschienenes Opus Magnum „Im Wald der Metropolen“. Sternförmig schwärmte er jahrzehntelang aus, publizistisch, geografisch, historisch und wörtlich genommen, von der Mitte Europas weg zu den Rändern, um nun im Alter von 56 Jahren zurückzukehren.

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In zahlreichen Reportagen, Essays, in seinen Journalen und vor allem seinen Reisebüchern (etwa „Die Hundeesser von Svinia“) hatte Gauß seine Expeditionen zu verschwindenden Kulturen wiedergegeben, von Gesprächen mit befreundeten Intellektuellen und Zufallsbekanntschaften erzählt und sich Gedanken zu Themen der Zeit gemacht. All das ist auch der Stoff, aus dem „Der Wald der Metropolen“ gestrickt ist. Das Buch ist wie seine Vorgänger ein Hybrid aus Reisebericht, Essay, Tagebuch und Roman.

Grenzüberschreitender Humanismus

Hier jedoch fügt Gauß die losen Enden zusammen. Auf 300 Seiten lässt er seine Erkundungen quer durch den europäischen Kontinent, quer durch die Literatur und die Geschichte des Abendlandes Revue passieren. Als Begleiter wandelt er selbst durch seinen Text, erzählt über sich als Suchenden, der immer wieder neu bewerten muss, was er im Lauf der Jahre an Wissen und Erfahrungen zusammengetragen hat. Nach und nach erkennt der Leser, dass hier nichts weniger als die Entstehung und Entwicklung jenes Amalgams nachgezeichnet wird, das Europa zusammenhält oder, besser, zusammenhalten sollte: das des grenzüberschreitenden Humanismus.

Gauß stellt dabei neben viel geachteten Geistesgrößen auch emanzipierte, durch ihr Werk völkerverbindende Denker, Dichter, Chronisten, Künstler, Herrscher und Revolutionäre vor, die in Vergessenheit geraten sind oder zumindest nicht jenem Bildungskanon angehören, der in Gymnasien gelehrt wird. Er reist ihnen an ihre Wirkungsstätten nach, von Rumänien bis Ottakring, von Griechenland bis Polen, sucht nach ihren Spuren und findet sie nicht selten in der Gegenwart, in einem Beisl bei einem Gespräch.

Ein Beispiel dafür, wie Gauß der europäischen Geschichte nachspürt, sind die Passagen über Ottakring. Offiziell wird die österreichisch-ungarische Monarchie als multikultureller Vielvölkerstaat gepriesen - und Wien als historischer Schmelztiegel der Kulturen. Die Wurzeln der Ausländer- und Islamfeindlichkeit werden zumeist in der Türkenbelagerung vermutet und in der österreichischen Einwanderungspolitik der letzten vierzig Jahre. Gauß erzählt, ob zusätzlich oder stattdessen, eine andere Geschichte.

Ottakring als Labor

Er berichtet, ausgehend vom slowenischen Schriftsteller Ivan Cankar, über ein verdrängtes Wien, in dem schon vor über hundert Jahren Ausländer ein Schattendasein führten: „Der großen, heute in aller Welt gerühmten österreichischen Literatur der Jahrhundertwende müsste man immer die Literatur jener Slawen zur Seite stellen, die Wien als feindselige, abweisende Burg oder als alle Träume und Lebenspläne verschlingenden Moloch erlebten.“

Und Gauß fügt noch eine historische Beobachtung hinzu. 1911 schickte die Monarchie Bosniaken aus, um aufständlerischen Arbeitern in Ottakring den Garaus zu machen, bekleidet in traditioneller Kleidung statt in Uniform: „So schlug im Volk der Hass auf die Obrigkeit in den Hass auf die Fremden um, ein verhängnisvolles Erbstück der Monarchie, das noch von den heutigen aufgetragen und darüber immer schäbiger wird.“

Gauß gibt sich nicht zufrieden mit dem Blick aus der Ferne, er schlendert die Ottakringer Straße entlang und beobachtet das Treiben auf dem Yppenplatz. Es ist ein friedliches Nebeneinander, das er beschreibt und abgrenzt von politisch motivierten Aussagen über Ausländerfeindlichkeit und Ghettodasein auf der einen und gelebte, verbrüdernde Multikulturalität auf der anderen Seite.

Das barbarische Nicht-Europa

So hantelt sich Gauß von Assoziation zu Assoziation, von Abirrung zu Abirrung. Zwei seiner Grundaussagen sind, dass Europa ausgerechnet dort zusammenwächst, wo man es nicht vermutet - etwa durch die grenzenüberwindende Kultur der Zuwanderer; und dass sich Europa jahrhundertelang nur als Gegenentwurf zu einem barbarischen Nicht-Europa denken konnte, obwohl die Barbarei von Folter und politischer Verfolgung in seiner Mitte stattfand.

Buchcover "Im Wald der Metropolen"

Verlag Zsolnay

Buchhinweis

Karl-Markus Gauß: Im Wald der Metropolen. Zsolnay, 300 Seiten, 20,50 Euro.

Sich selbst als erzählerisch verbindendes Element des Textes setzt Gauß sparsam ein. Er beobachtet und spricht, er gibt wieder, was er sieht und hört. Gonzo-Journalismus im Sinne eines Hunter S. Thompson, der sich als wichtiges Element der Handlung in seine Bücher und Reportagen hineinschrieb, wird man hier vergeblich suchen. Gauß erklärt sich selbst nur nebenbei, wenn er etwa über seinen Vater berichtet, der eine „Flüchtlingsberatungsstelle für Volksdeutsche“ in Salzburg leitete, oder darüber, dass er schon in jungen Jahren Seitenstränge der Literaturgeschichte verfolgte.

Diesbezügliche Fragen werden nachträglich beantwortet. Am 16. August legen die Literaturwissenschaftlerin und -journalistin Daniela Strigl und Herbert Ohrlinger, der den Zsolnay Verlag leitet, mit „Grenzgänge“ einen Band mit Beiträgen über Gauß vor.

Simon Hadler, ORF.at

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