Gerald Finley als Lear im Regen

Salzburger Festspiele / Thomas Aurin

„Lear“ und die Blumen des Bösen

In einer an Opernüberraschungen nicht armen Spielzeit 2017 legen die Salzburger Festspiele im Finale noch eins drauf. Aribert Reimanns „Lear“ wird in der Felsenreitschule in der Kombination aus Wiener Philharmonikern unter Franz Welser-Möst, Simon Stone (Salzburger Regiedebüt) und einem herausragenden Gerald Finley als verblendetem König zu einer Sternstunde für die zeitgenössische Oper, die alle gegen sie in Stellung gebrachten Vorurteile in den Wind schlägt.

Atemberaubend statt anstrengend ist dieses Werk aus dem Jahr 1978. Und das darin verhandelte Fanal um den Willen zur Macht, der den Menschen am Ende auslöschen wird, zieht das Publikum zweieinhalb Stunden in den Bann. Was auf einer unschuldig bunten Blumenwiese beginnt, wird zu einem Endspiel, in dem sich die Charaktere in Luft auflösen - und die Musik einer Oper zeitgleich ausfadet, als wäre es das bittere Ende eines Popsongs.

Wenn sich die Felsenreitschule als Erprobungsort für die zeitgenössische Oper entwickelt hat, dann bleibt nach diesem Sonntag die Feststellung: Besser und kühner hat man diesen Spielort mit seiner schwierigen Breite selten genutzt gesehen. In sehr intelligenter Form macht Stone aus diesem Szenario eine Art von abgewandeltem Globe Theatre und bringt den für die Oper adaptierten Shakespeare-Klassiker in einer scheinbar minimalistischen Art auf die Bühne.

Gesamtansicht Ensemble vor der Felsenreitschule

Salzburger Festspiele / Thomas Aurin

Spiel auf einem engen Bühnenstreifen: Stone verwandelt die Felsenreitschule in eine Art Globe Theatre mit mehr Breite

Intelligenter Minimalismus

Spielbereich ist ein schmaler Streifen, der für alle Darbietungsformen reichen muss. Stone verfällt nicht der Versuchung seines Kollegen Alvis Hermanis, der bei seinen Salzburg-Arbeiten im zeitgenössischen Fach immer auf die Felsarkaden des Hintergrunds aufblendet und diese geradezu erdrückend in Szene setzt. Der Ort, an dem sich das Drama samt Erzählernarren entwickelt, muss ein enger sein. Der Hintergrund ist ein gespenstischer, erbarmungsloser Stein.

Eng ist es nicht zuletzt für das in voller Breite und Fülle aufgestellte Orchester: Welser-Möst positioniert seine fünf Schlagwerker (er nennt es die „Grubinger-Lektion“) fern vom Orchestergraben auf den Regiebalkonen rechts neben dem Parterre. Das erzeugt ein komplett neues, breites Klangspektrum, zwingt aber die Philharmoniker bei ihrem „Lear“-Debüt auch, ein gänzlich neues „Gewand“ anzulegen: An diesem Abend ist ein Verstärken im Nachhall gefordert, sind bombastische Einsätze ebenso verlangt wie ein zwischenzeitliches Unterschlüpfen der Musik unter den mitunter schon rezitativ-wirkenden Gesang der Oper.

Ein schonungsloser „Lear“

Reimann bringt den Plot von Shakespeares „Lear“ auf dem von Claus H. Henneberg eingerichteten Libretto kondensiert, effizient und schonungslos voran. Da ist der König, der sein Reich an die um ihn buhlenden Töchter Goneril und Regan verteilt und die nicht zu Schmeicheleien neigende Cordelia außen vor lässt. Und da ist wiederum auch der Graf von Gloster aus seinem Hofstaat, der einer Intrige seines unehelichen Sohnes Edmund gegen seinen Halbbruder Edgar zum Opfer fällt. Beide Plots reflektieren sich schon bei Shakespeare gegenseitig und verkeilen das Spiel der Machtbesessenheit derart, dass sich am Ende alle wie Monster ausradieren müssen.

Wie kein anderer erkennt Reimann die Struktur Shakespeares und schafft es, dafür eine kompositorische Idee zu entwickeln: Spiegelungen und Reflexionsfiguren sind das tragende Element seiner musikalischen Dramaturgie. Die Orchesterarbeit, sie ist Nachhall, Verstärker und Beschleuniger der entwickelten Themensetzung zum glasklar verständlichen Gesang. Chorpassagen - und die von Reimann so kongenial eingesetzten Fade-out-Effekte (man denke nur an die Art „Nachspiel“ am Ende des ersten Aktes) verstärken die dauernde Spiegelungs- und Reflexionsszenarien der Oper.

Zusätzlich setzt er den sprechenden Narren ein, der vor allem im ersten Akt ein „episches Operntheater“ vorantreibt.

„Lear“ als Opernpremiere

Zum Abschluss der Salzburger Festspiele dirigiert Franz Welser-Möst die Wiener Philharmoniker bei der Oper von Aribert Reimann.

Gerald Finley als dominanter Lear

Finley als Lear gestikuliert und singt gleich zu Beginn, bevor noch das Orchester einsetzt und zu arbeiten hat. Michael Maertens als Narr an seiner Seite ist ihm immer voraus, was das Wissen um Entwicklungen anlangt. Zusätzlich lässt er sich in dieser Inszenierung nicht auf eine Sprecherrolle fixieren, sondern singt auf eigentümlich gutem Niveau mit.

Die Mickymaus auf dem blutigen Parkett

Salzburger Festspiele / Thomas Aurin

Alle müssen im zweiten Teil durch die Blutlacke - und wer dabei als Rächer zusieht, bleibt vorerst ein Rätsel

Während die Töchter Goneril (Evelyn Herlitzius) und Regan (Gun Brit Barkmoin) wie Hyänen das Stück zugesprochenes Land und Macht zerfetzen, setzt Edmund auf der Grundlage eines falschen Briefes an, sich des Reiches des Vaters zu bemächtigen.

Gloster (Lauri Vasar) wird nicht nur als Erster in dieser Opern erblinden. Er nimmt das Schicksal Lears drastisch vorweg. Edmund (Charles Workman) ist mit seinem Plot gegen den Bruder Edgar (dem Countertenor Kai Wessel) wieder ein zentrales Scharnier für die gesamte Oper - und die Spiegelung des Bruderverhältnisses im zweiten Teil der Auftakt zum Endspiel.

Die Pläne, sich mehr und mehr Land einzuverleiben, befördern ein Spiel exzessiver Machtversessenheit und fataler Verschränkungen von Expansionsstrategien.

Lear und Cordelia

Salzburger Festspiele / Thomas Aurin

Finley (r.) als Lear und Anna Prohaska als Cordelia: Eigentlich sind sie in dem Moment der Gefangennahme schon ins Reich der Toten gewechselt

Lear als irrer und irrender König erkennt im Wahnsinn seine Verblendung. Die späte Begegnung mit seiner Tochter Cordelia bringt bedingten Trost: Aus seinen Einsichten wird Lear keine Handlungen formen können. Beide geraten sie in Gefangenschaft und sind dem Tod geweiht. Ein riesiger Schleier ist da von oben über die Bühne gefallen.

Hinweis

Der „Lear“ ist bei den Salzburger Festspielen noch am 23., 26. und 29. August zu sehen.

Das Schlussbild zeigt einen Lear mit der kreidebleichen toten Cordelia auf einem Krankenbett - und mit jeder Nebelschicht, die Vater und Tochter bedecken, driftet die Musik langsam weg. Die Art, wie hier die Arbeit von Stone und Welser-Möst/Philharmoniker zusammenspielt, gehört zu den großen eindrucksvollen Momenten des Abends.

Hoffnungsschimmer gibt es bei Reimann, der dieses Werk am Höhepunkt des Kalten Krieges fertiggestellt hatte, keine. Alle sind im sich verselbstständigenden Spiel um die Macht mit verstrickt. Eindrucksvoll die erste Massenszene mit dem Staatsopernchor, die das Irrewerden an der Macht, das sich wie ein Virus in jeden Körper eingenistet hat, verdeutlicht.

Eine klare Regiearbeit

Stone arbeitet mit klaren Regiemitteln, die er bis ins Detail ausfeilt und zur Geltung bringt. Die Gesellschaft, die er hier ausstellt, ist keine ferne, sondern eine, die der Umgebung täuschend ähnlich sieht. Hinter der Spielfläche hat er deshalb noch einmal Statisten gesetzt, die zum Beginn so wirken, als hätte man auch auf der Bühne Sitzplatzkarten vergeben.

Im Getriebe der Spiegelungen dieses Abends muss dem Publikum ganz schön kalt werden. Der frenetische Schlussapplaus, er ist nicht so sehr die Erlösung für diesen Abend. Eher markiert er einen Übergang zum Nachhall für eine Oper, die bisher gekannte Normen verlässt. Und die sich im Kopf lange nach dem Verlassen des Musiktheaters festkrallt.

Reimanns „Lear“ ist rasch zu einem Klassiker geworden und steht seit knapp 40 Jahren ständig auf den Spielplänen der Opernbühnen. In Salzburg hat man sich 2017 mit dem „Wozzeck“ und der „Lady Macbeth von Mzensk“ in diesem Sommer eine besondere Operngeschichtsstunde im Fach der Moderne geschenkt.

Gerald Heidegger, ORF.at

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