Anarcho-Musical trifft Funklegende
Sie werden bis zur letzten Minute proben - das schickt Dolgin gleich vorweg. Denn das internationale Ensemble, das sich hinter Socalled & Friends verbirgt, trifft nur für die Aufführungen ihres Musicals zusammen. Ansonsten sei man über die ganze Welt verstreut.
„Socalled“ ist Dolgins Künstlername als Musiker, Rapper und Produzent. Der Kanadier, der seinen Lebensmittelpunkt in Montreal hat, beschäftigt sich seit sieben Jahren mit dem Genre Musical und hat mit seinen „Seasons“ eine Fortsetzungsgeschichte geschaffen, die Publikum und Kritik gleichermaßen zu schätzen wissen.
Zuerst die Puppen, dann die Show
Zum Puppentheater sei er durch Zufall gekommen, erzählt Dolgin im Gespräch mit ORF.at. „Ich habe bei mir in der Wohnung ein Stück Fell gefunden und mir gedacht, da sollten unbedingt zwei Augen drauf und ein kleines T-Shirt“, so der Regisseur.
Die Konsequenz dieser Eingebung war eine Puppe, die auch bei „The 2nd Sesaon“ zum Einsatz kommt: der Bär, der wie schon im ersten Teil der Musicalreihe, „The Season“, eine tragende Rolle spielt.

Anja Beutler
Bär, Biber und Co. arbeiten in „The 2nd Season“ in einer Posaunenfabrik und sind süchtig nach Honig
Doch beim Bären blieb es nicht. Dolgin, der nicht nur als Musiker, sondern auch als Cartoonist, Filmemacher und Journalist arbeitet, kreierte immer mehr Figuren. „Plötzlich hatte ich eine Ente, einen Biber und ein rotes, flauschiges Wesen, das gar keinem Tier ähnlich sah und deswegen ein Außerirdischer sein musste“, so der Puppenmacher.
Schließlich hatte er so viele Puppen, dass er eine Show machen musste. Daraus ist mittlerweile eine Musicalserie geworden, die das Genre mit viel Witz, flauschigen Protagonisten und großartiger funklastiger Musik sprengt.
Hinweis
„The 2nd Season“ ist noch am 9. Juni und 10. Juni in der Halle G des Museumsquartiers zu sehen. Am 9. Juni findet im Anschluss an die zweite Vorstellung ein Publikumsgespräch statt.
Für die ganze Familie
„The 2nd Season“ setzt dort an, wo der erste Teil aufgehört hat. In „The Season“ erzählte Dolgin die Geschichte befreundeter Waldtiere, die sich nicht nur vor dem Jäger, sondern auch vor quirligen, rothaarigen Wuschelwesen von einem anderen Planeten fürchten.
Zwischen der Außerirdischen Tina und dem Bären entspinnt sich schon bald eine dramatische Liebesgeschichte. In „The 2nd Season“ ist der Wald abgeholzt, die Tiere leben in der Stadt und fristen ihr Dasein in einer Posaunenfabrik.
„Oberflächlich gesehen, sind diese Musicals reine Unterhaltung“, so Dolgin. Es seien einfache Geschichten, an denen sich auch Kinder erfreuen. Wenn man sich den Inhalt aber genauer anschaue, gäbe es genug Elemente, über die man sich Gedanken machen könne. In „The 2nd Season“ geht es um Umweltzerstörung, Mechanisierung, Ausbeutung und Sucht.
„Ich habe versucht, gemeinsam mit Joe Cobden eine Story zu entwickeln, die der ganzen Familie Spaß macht, ohne platt zu sein“, so Dolgin. Im Mittelpunkt der Geschichte steht der einzige menschliche Protagonist: Der antriebsgestörte Direktor der Posaunenfabrik, gespielt von keinem Geringeren als der Funklegende Fred Wesley.

Anja Beutler
Funklegende Fred Wesley spielt den Direktor der Posaunenfabrik
Funklegende trifft Allroundgenie
„Josh ist ein Genie“, meint Wesley. Egal was er tue, ob Zauberei, Cartoons, Musik oder eben Puppenspiel, alles würde großartig werden. Deswegen habe es auch nicht viel Überzeugungskraft von Dolgins Seite gebraucht, um ihn an Bord zu holen. Das ist nicht das erste Mal, dass die beiden Künstler zusammenarbeiten. Wesley hat schon oft gemeinsam mit „Socalled“ Musik gemacht. In der gemeinsamen Band Abraham Inc. mischen sie Funk, Soul, Hip Hop und Klezmer. Ein ungewöhnlicher Genremix, der erstaunlich gut klingt.
Für den ersten Teil der Musicalserie schrieb Wesley die Ouvertüre. Im Zweiten Teil spielt er eine der Hauptrollen und ist natürlich auch als Posaunist zu hören. „Ich bin wirklich dankbar, Josh zu kennen, denn er fordert mich heraus und bringt mich dazu, neue Dinge zu probieren“, so der 74-Jährige, der schon mit Count Basie, Ray Charles, Tina Turner oder George Clinton auf der Bühne stand.

Peter Hönnemann
Das internationale Ensemble besteht aus Musikern, Puppenspielern, Sängern, Rappern und Tänzern
„Nachdem Fred meinen Vorschlag angenommen hatte, mitzumachen, wollte ich unbedingt, dass er sich auf der Bühne wohlfühlt“, erzählt Dolgin. Also habe er nicht nur das Konzept an Wesleys Bedürfnisse als Performer angepasst, sondern auch bei der Komposition an die Funklegende gedacht. „Ich wollte ihm die Möglichkeit geben, seine unglaublichen Fähigkeiten auch bei diesem Musical zu zeigen“, so der Regisseur und Komponist.
Alle guten Dinge sind vier
Neben Wesley sind auch das Hamburger Kaiser Quartett zu hören, bekannt durch Auftritte mit Chilly Gonzales. Es gibt Gesang, Rap und Tanz. Weil eine Vater-Tochter-Beziehung im Mittelpunkt des Stückes steht, konnte Dolgin auch Wesleys Tochter Joya Wesley davon überzeugen, ein Duett mit ihrem Vater zu singen. Mit fast allen Musikern und Darstellern ist Dolgin seit Jahren befreundet. „Viele meiner Projekte starten als private Leidenschaft, und dann wird plötzlich ein künstlerisches Unterfangen daraus, das Teil meines beruflichen Lebens wird“, so Dolgin.
„The Season“, der erste Teil, wurde zu einem großen Erfolg beim Hamburger Kampnagel-Festival. Also kehrte man mit einem zweiten Teil zurück, den es jetzt auch bei den Wiener Festwochen zu sehen gibt. Dolgin arbeitet bereits an der dritten Folge, die vierte hat er zumindest in Grundzügen im Kopf. Dann soll aber Schluss sein mit seinem Musicalprojekt. „Ich war gerade in Venedig und musste an Vivaldi und seine Vier Jahreszeiten denken“, so der Künstler. Vier Folgen bzw. „Four Seasons“ seien genau die richtige Anzahl für sein Projekt.
Marlene Nowotny, ORF.at