Großes Theater um den Fußball
Es ist kein gewöhnlicher Abend für das Theater gleich gegenüber dem Wiener Naschmarkt: Schon vor dem Eingang sorgt ein klassischer nordfranzösischer Pommes-Stand, eine „Baraque a frites“, für Stadionstimmung. Die Pommes von Momo, bekannt aus dem Film „Willkommen bei den Sch’tis“ und tatsächlich eine Institution beim Traditionsverein RC Lens, finden Anklang bei Publikum und Passanten - und sind ein erster Schritt für das ambitionierte Projekt des französischen Theatermachers Khatib: die Welt des Theaters und die des Fußballs aufeinandertreffen zu lassen.
Hinweis
„Stadium“ ist bei den Wiener Festwochen noch am 30. Mai um 19.30 Uhr im Theater an der Wien zu sehen.
Khatib führt das Publikum langsam an die Faszination Fußball heran. Zu Beginn gibt es eine Trompetenfanfare, es folgen Videoclips, in denen Fans ihre Faszination und ihre Verbindung zum RC Lens schildern - nicht unwichtig für den Verlauf des Abends ist der Hinweis darauf, dass sich die Fans von Lens als das beste Publikum der Welt bezeichnen.
Laiendarsteller übersetzen und sorgen für Stimmung
Wenig später steht jedoch eine Handvoll Fans von Rapid Wien auf der Bühne. Denn in der für die Festwochen adaptierten Version des ursprünglich 2017 uraufgeführten Stücks greift Khatib auch auf den österreichischen Fußball zurück - Seitenhiebe auf die Qualität des heimischen Sports eingeschlossen. Die Fans sind echt: Der französische Theatermacher setzt für seine Arbeit auf Laiendarstellerinnen und -darsteller, Khatib ist dabei fast durchgehend auf der Bühne und wird von einem der Rapid-Fans übersetzt.

Nurith Wagner-Strauss
In „Stadium“ stehen echte Fußballfans auf der Bühne
In der Folge findet sich auch ein Großteil der in den Videos gezeigten Lens-Fans auf der Bühne ein. Im Laufe des Abends wird getrommelt, Fahnen werden geschwungen und viele Einzelschicksale erzählt, etwa über Großfamilien, für die der Fußball alles ist - inklusive der charismatischen Großmutter, die live per Skype zugeschaltet wird, weil sie die Reise nach Wien nicht antreten konnte, während ihre Kinder und Enkel auf der Tribüne Platz nehmen.
Bier und Pommes auf der Bühne
Die Stimmung des Abends wird nach und nach ausgelassener - ehe ein Schiedsrichter zur Halbzeit pfeift. Die 15-minütige Pause ist das vielleicht ungewöhnlichste Theatererlebnis dieser Festwochen: Denn ein Nachbau von Momos Pommes-Stand findet sich auch auf der Bühne wieder - und verkauft Pommes und „Ch’tis“-Bier, für das gesamte Publikum.

Nurith Wagner-Strauss
Hinter dem RC-Lens-Maskottchen befindet sich ein Pommes-Stand, der in der Pause Bier ausschenkt
Ebenfalls auf der Bühne sind die Fußballfans und der Regisseur - und gemeinsam wird gegessen, angestoßen und getrunken. Fußball verbindet, so wohl die Botschaft, und das scheint in diesem Moment tatsächlich zu stimmen: Trotz Sprachbarriere zwischen Lens-Fans und Publikum hindert das niemanden, zusammen zu feiern. Erst die Aufforderung, die Bierdose auf der Bühne zu entsorgen und nicht in den Publikumsraum mitzunehmen, holt das Publikum wieder in den Theateralltag zurück.
Fußball ist auch Politik
Die Geschichten, die Khatib auf der Bühne und in Videos über die gesamte Spielzeit von rund zwei Stunden erzählt, verdichten sich nach und nach zu einem politischen Porträt des RC Lens. Ein klassischer Arbeiterverein, geprägt durch den Bergbau in der Region, dessen Stadion - das Stade Bollaert - für viele Anhänger heute auch dazu dient, die Sorgen des Alltags hinter sich zu lassen. Denn seit die letzte Mine Ende der 80er geschlossen wurde, gibt es für viele kaum Arbeit - und kommunistische Wurzeln treffen auf rechtspopulistische Tendenzen.

APA/AFP/Francois Lo Presti
Die Stimmung im Stade Bollaert des RC Lens ist oft aufgeladen
Nach und nach entsteht ein vielschichtiges Bild von Fußballfans, nicht nur jenen des RC Lens, denn Parallelen lassen sich auch im österreichischen Fußballbetrieb finden. Immerhin gilt auch Rapid als klassischer Arbeiterverein. Das Klischee vom typischen Fußballfan dekonstruiert der französische Theatermacher jedenfalls schrittweise, live auf der Bühne - und mit Erfolg.
Regisseur lässt Fans Fragen stellen
„Stadium“ driftet dabei nie in Richtung Sozialporno ab und verzichtet auch auf den erhobenen Zeigefinger. Khatib gelang es, Teile der Ultras, der radikalen Fangruppierungen, in sein Stück einzubeziehen. Damit werden auch Themen wie Gewalt zwischen rivalisierenden Fans behandelt - allerdings aus Perspektive der Beteiligten, nicht der Polizei. Khatib lenkt den Blick auf Gesetze, die die Verfolgung von Fußballfans erleichtern, und ermöglicht einen seltenen Einblick in die Ultra-Szene - dem es manchmal vielleicht an Distanz mangelt.
Spannnend wird es, wenn Khatib die Positionen wechselt und die Fußballfans über das Theater reden lässt. Die Aussagen der Anhänger machen die Faszination am Fußball vielleicht noch nachvollziehbarer: Etwa dann, wenn von einem der Fans die Frage in den Raum gestellt wird, ob man je das Gefühl gehabt habe, durch den eigenen Applaus etwas zu einem Theaterstück beigetragen zu haben.
Nachspielzeit auf der Wienzeile
Nach rund 120 Minuten, also dem Äquivalent eines Fußballspiels plus Verlängerung, ist Khatibs Hommage an den Fußball offiziell zu Ende, das Publikum belohnt die leidenschaftliche Inszenierung mit viel Applaus, der in Im-Takt-Klatschen mit den Fans auf der Bühne übergeht. Lens-, Rapid- und Theaterfans verlassen das Theatergebäude, vor dem Theater an der Wien wird ausgelassen gemeinsam weitergefeiert und -getrunken.
Dem französischen Theatermacher gelingt mit seiner Wien-Premiere ein ungewöhnliches Kunststück: ein leicht zugängliches Theaterstück, das Fußball und Kultur zusammenbringt und es dabei dennoch schafft, in die Tiefe zu gehen. Im Gegensatz zum Inhalt ist, wie bei einem echten Fußballspiel, die Stimmung nur schwer einzufangen. Der „Stadium“-Besuch steht dem sportlichen Vorbild dabei um nichts nach - Pommes und Bier inklusive.
Florian Bock, ORF.at