Szenenfoto aus "Ishvara"

Zhang Yan

„Ishvara“: Im Vollrausch der Opernorgie

Die Eröffnungsproduktion der diesjährigen Wiener Festwochen stellt die Nerven des Publikums gleich zu Beginn auf die Probe. „Ishvara“, ein Projekt des chinesischen Künstlers Tianzhuo Chen, bewegt sich zwischen Oper und Orgie, West und Ost, Kunst und Kitsch. Auch das Publikum am Premierenabend war gespalten.

Der in Peking geborene Chen gilt als Enfant terrible der chinesischen Kunstszene. Sein Kunststudium absolvierte der gerade knapp über 30-Jährige in London, seine Werke - Installationen und Videoperformances - stellte er unter anderem in Schanghai und Paris aus. Religion ist ein übergreifendes Thema seiner Arbeit - Chen ist tibetischer Buddhist -, in der äußeren Darstellung dominieren hingegen Sex und Drogen.

Szenenfoto aus "Ishvara"

Zhang Yan

Die Bühne in „Ishvara“ dient als interdisziplinäre Kunstinstallation, die Protagonist China Yu nicht komplett intakt lässt

Umfangreiches Vorwissen von Vorteil

Dementsprechend komplex präsentiert sich auch „Ishvara“. Der Titel ist eine alternative Bezeichnung für den hinduistischen Gott der Zerstörung, Shiva. Die von seiner Produktionsfirma als „opernhaft“ bezeichnete Performance greift auch auf einen der bekanntesten Stoffe des Hinduismus zurück, die Bhagavad Gita, kurz: Gita - ein spirituelles Gedicht, bestehend aus 700 Strophen.

Die Charaktere in „Ishvara“ sind jedoch nicht direkt daraus entnommen, sondern verkörpern die darin vorkommenden abstrakten Konzepte. Das Programmheft versucht sich in einem Crashkurs in indischer Philosophie und führt Begriffe wie Prakrti, Purusa und Bhakti ein, die auch auf der Bühne präsent sind und den Kern der Handlung bilden.

Beim Betreten der Halle E des Wiener MuseumsQuartiers wird den Besuchern und Besucherinnen auch noch eine ausgedruckte Übersetzung der gesprochenen chinesischen Textstellen angeboten - auf Übertitel wird verzichtet. Es macht letztlich aber keinen großen Unterschied, ob diese Hilfestellung auf Papier angenommen wird: „Ishvara“ ist ein Stück, das so oder so offenbar nicht darauf aus ist, verstanden zu werden. Dass es trotzdem gelingt, über knapp zweieinhalb Stunden zu fesseln, ist Chens größte Leistung am Abend der Europapremiere.

Butoh-Tanz und Britney Spears

Auf der Bühne herrscht Opulenz, die die erzählerische Ebene ohnehin bald in den Hintergrund rückt. Es wird mit Fleisch geworfen, gekreuzigt, gebadet und vor allem viel getanzt - einmal mehr, oft weniger angezogen. Neon- und Schwarzlicht beleuchten ein großes Kreuz, das auf der Spitze eines Berges im Hintergrund aufgestellt ist, und eine auf dem Boden aufgemalte Swastika - dazwischen spaltet ein weit hineinragender Steg den Zuschauerraum.

Amelie Poulain, Tänzerin der Gruppe House of Drama

Zhang Yan

„Dämonen“ tanzen auf der Bühne

Das Ensemble, allen voran der ausdrucksstarke China Yu und die Tänzerinnen und Tänzer des Kollektivs House of Drama vereinen in ihrem Spiel westliche und östliche Elemente, bei denen Körper und Körperlichkeit mehr als sonst im Mittelpunkt stehen. So trifft etwa japanischer Butoh-Tanz auf traditionellen indischen Tanz - vermischt wird das mit zahlreichen Komponenten westlicher Popkultur, die Chen, bis hin zum live eingespielten Britney-Spears-Cover, auf sämtlichen Ebenen in sein Werk integriert.

Ohrenbetäubende Geräuschkulisse

Wenn sich dann jedoch sieben Personen gleichzeitig auf der Bühne bewegen - an jeweils verschiedenen Schauplätzen - wird es mitunter zur Herausforderung, das gesamte Geschehen mitzuverfolgen. Chens bisherige Performances wurden in erster Linie in kleinem Rahmen aufgeführt - diese Intimität geht mit wachsender Distanz zur Bühne verloren, übrig bleibt oft komplette Reizüberflutung.

Diese konstante Überforderung wird auch von der akustischen Begleitung befördert: Ein live eingespielter Electro-Soundtrack von DJane Aisha Devi wechselt mit der Geräuschkulisse ab, die mitunter enorm laut wird. Das erinnert streckenweise stark an die Musik der isländischen Künstlerin Björk. Das Publikum teilt sich in einen kleinen Teil, der sich an mancher Stelle die Ohren zuhält, und den Rest, der von der ohrenbetäubenden Soundkulisse fast in eine Art Trance versetzt wird, die „Ishvara“ irgendwo zwischen Performance und Clubbing positioniert.

Performance mit Ecken und Kanten

Und auch sonst ist „Ishvara“ in Wien nicht unumstritten: Während der Großteil des Publikums von der Mischung aus Bildgewalt und hypnotischen Beats in den Bann gezogen ist, suchen einige - durchaus nachvollziehbar - auf ihrem Übersetzungstext nach Erklärungen für das Geschehen auf der Bühne, nach der dritten Szene gibt es vereinzelte Buhrufe, spätere Szenenwechsel werden von manchen als Gelegenheit gesehen, den Saal zu verlassen.

Hinweis

„Ishvara“ ist noch am 14. und 15. Mai jeweils um 20.00 Uhr in der Halle E im Wiener MuseumQuartier zu sehen. Am 15. Mai findet im Anschluss an die Vorstellung ein Publikumsgespräch statt.

Doch die große Mehrheit beißt sich durch Chens religiös angehauchte Orgie, ersten Beifall gibt es schon, bevor der letzte Vorhang fällt - nicht zuletzt weil Chen einzelne Szenen bewusst in die Länge zieht und dabei anscheinend mit der Erwartungshaltung des Publikums spielt.

Am Ende ist der Applaus stürmisch, womöglich ist es bei einigen auch Erleichterung: „Ishvara“ ist keine einfache Performance, sie bringt Darsteller und Darstellerinnen sowie Publikum an ihre Grenzen und überschreitet diese streckenweise. Das neue Gesicht der Festwochen präsentiert sich tatsächlich wesentlich kantiger. Der Großteil des Publikums wusste das - zumindest an diesem Abend - durchaus zu schätzen.

Florian Bock, ORF.at

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