„Hyperreality“: Beats, Party und Politik
Mit den Möglichkeiten, die sich mit dem digitalen Wandel aufgetan haben, ist insbesondere die Welt der Clubkultur zu einem außerordentlich unübersichtlichen Musikzweig geworden. Elektronische Tanzmusik hat ab den 1990er Jahren einen globalen Siegeszug angetreten, dessen rasante Verbreitung kommerziellen Interessen am neuartigen Sound ebenso geschuldet war wie der Demokratisierung der Produktionsmittel. Clubmusik wurde zum universalen künstlerischen Ausdrucksmittel mit unzählbaren Sub-Spielarten.
Denn jeder Laptop-Besitzer kann ein Produzent sein, und er kann sich umgehend mit der Welt vernetzen, Daten austauschen, virtuelle Reisen antreten und sich vermeintlich unnützes Wissen aneignen. Das verursacht im Menschen, der letztlich Produkt seiner Lebensumstände ist, ebenso etwas, wie es den Kreativprozess an sich beeinflusst. Unendliche Möglichkeiten können aber letztlich auch ein Hemmschuh sein. Sie können gehörige Verwirrung stiften.
Ungehörtes in Simmering
Nicht nur dieser Transformation der vergangenen zwei Jahrzehnte wird im Rahmen von „Hyperreality“, das ab dem 24. Mai vier Nächte hintereinander im Schloss Neugebäude in Simmering ein sehr lautes Zeichen setzen wird, nachgespürt. „Hyperreality“ ist als großer Reigen mit theoretischem Überbau und Partycharakter sowie einem politischen Drall zu verstehen, der die augenblickliche Musikwelt vermessen will und Ungehörtes am Rand von Wien darbietet.
Die Schiene sucht die Gemeinsamkeiten nicht anhand spezifischer Genres, sondern anhand der virtuellen Lebenswelten ihrer Protagonisten und den damit verbundenen Produktionsprozessen, die allen historischen Vergleichen trotzen. Alte Regeln sind hier längst überwunden. Nicht der Revolution wegen, sondern aus pragmatischen Gründen.
Das Überwinden jeglicher Grenzen
Das Format präsentiert Künstler, deren kreatives Selbstverständnis mit den Strukturen der digitalen Kommunikations- und Datenwelt stark verknüpft ist, wie etwa die britische Künstlerin Holly Herndon, für die Kollaborationen über alle Grenzen hinweg zum fruchtbaren Kreativmittel wurden. Die Britin hat mit dem iranischen Philosophen Reza Negarestani ebenso gearbeitet wie mit dem House-Produzenten Hieroglyphic Being. Brücken zu schlagen ist für Herndon selbstverständlich.
Ihre Arbeiten bilden eine Schnittstelle zwischen Theorie, bildender Kunst und Popkultur. Im Rahmen der Festwochen wird ihre neue Liveshow, die sie gemeinsam mit dem Künstler Mat Dryhurst, dem Performer Colin Self sowie einem Chor umsetzen wird, überhaupt zum ersten Mal zu hören sein.
Dancehall, Goth, Industrial
Herndon bildet einen der Höhepunkte der ersten „Hyperreality“-Nacht am 24.Mai, die auch eine starke Schlagseite in Richtung Industrial- und Goth-Sounds aufweisen wird, aber genauso dem Lissaboner Label Principe einen Schwerpunkt widmet. Mit Dancehall-Sounds ist ebenso zu rechnen wie mit Footwork. Jeder der vier „Hyperreality“-Abende bringt bis zu 20 Künstler in diversen Räumen des Schlosses.
Die Welt als abstraktes Dorf
Dass die Welt trotz all der Unübersichtlichkeit genauso ein abstraktes Dorf geworden ist, wird insbesondere an Tag zwei von Hyperreality schlagend. Galten einst Städte wie Detroit und Berlin als stilprägend und mit einem gewissen Sound in Verbindung stehend, so lassen auch hier die digitalen Welten vieles verschwimmen. Die Festwochen sprechen von „hyperlokalen Communities“, die der Musik ein neues Selbstverständnis hinsichtlich ihrer Verortbarkeit geben.
Veranstaltungshinweis
„Hyperreality“ findet von 24. bis 27. Mai 2017 jeweils ab 21.00 Uhr im Schloss Neugebäude statt.
Das schwedische Label und Kollektiv Staycore ist ein Paradebeispiel für die Loslösung von der Geografie und für das globale kreative Handeln, das sich rückkoppelnd in der Musik niederschlägt. Für „Hyperreality“ wird Staycore mit dem aus London stammenden Kollektiv Bala Club, das eine Clubreihe und eine Musikplattform mit ähnlichem Geist betreibt, fusionieren, um einmalig unter dem Namen Balacore aufzutreten, was sich musikalisch auch in Richtung sphärischen Cloud Rap entwickeln wird.
Digitaler Staat und Machtstrukturen
NON Worldwide, ein Kollektiv afrikanischer Musiker, die in der Diaspora leben, treiben das Spiel mit der Verortung auf die Spitze, sie haben einen digitalen Staat ausgerufen, den „State of NON“ und geben „Hyperreality“ einen deutlichen politischen Drall: NON Worldwide will koloniale Machtstrukturen mit den Mitteln der Clubmusik sichtbar machen. Das Kollektiv tritt in Form einer Österreich-Premiere am dritten Tag auf, wo auch die Auftragsarbeit „Securitaz“ des Künstlerduos Amnesia Scanner zu sehen sein wird. Der ehemalige Ballsaal des Schlosses erfährt eine audiovisuelle Inszenierung, die sich mit den inhaltlichen Ansätzen der viertägigen Veranstaltung beschäftigt.
Geschlechterrollen in der Clubkultur
Und „Hyperreality“ stellt die Frage nach den Geschlechterrollen. Denn insbesondere in einem für sehr lange Zeit als sehr progressiv geltenden künstlerischen Bereich wie der Clubmusik ist es um den Anteil der Frauen nach wie vor außerordentlich schlecht bestellt. Der vierte Tag bringt vorwiegend weibliche Protagonistinnen zu Gehör, wie die New Yorker Rapperin Princess Nokia, die Geschlechter- und Hip-Hop-Klischees sehr direkt zum Thema macht und ein entsprechendes Vokabular in Gebrauch hat.
Auch Tomasa Del Reals Werdegang ist von einem selbstverständlichen Umgang mit neuen Strukturen geprägt. Die Chilenin ist mit ihren Reggaeton-Sounds zur international gefragten Künstlerin geworden. Dem Onlinemagazin The Fader kommunizierte sie eine Selbstbeschreibung, die von neuen Realitäten zeugt: Sie sei lediglich ein Mädchen mit ein paar guten Freunden, einem Mac und Wi-Fi, das im Hier und Jetzt lebt, so die Chilenin sinngemäß.
Der politische Dancefloor
Und am letzten Tag erinnert „Hyperreality“ ausdrücklich daran, dass elektronische Tanzmusik in ihren Ursprüngen auch aus einer politischen Motivation heraus entstanden ist - dass Techno und House einst Ausdrucksmittel von Schwarzen bzw. Schwulen war. Heute mögen auf den Tanzflächen der Hedonismus und die schnelle Alltagsflucht vorherrschen. Doch die New Yorker Veranstalterin Venus X hat mit der Reihe GHE20GOTH1K eine Bewegung etabliert, die mit ihren Veranstaltungen politisches Bewusstsein schaffen möchte und sich dabei insbesondere mit sozialen und kulturellen Identitäten beschäftigt. GHE20GOTH1K gastiert bei „Hyperreality“ in Form eines Showcases.
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Johannes Luxner, für ORF.at