„MDLSX“: Der, die, das Körper
„C’era un ragazzo“ - etwa: „Es war einmal ein Junge“ - mit diesen, von einem kleinen Mädchen gesungenen, Worten wird der musikalische Lebenslauf der Hauptfigur eingeleitet. Die italienische Protestballade, ursprünglich aus den Sechzigern und von Gianni Morandi gesungen, dient als Ausgangspunkt für „MDLSX“ - und gibt bereits mit dem ersten Ton den Geschlechter-überwindenden Tenor der folgenden Performance an.
Die Bühne ist an diesem Abend im Wiener Schauspielhaus betont schlicht gehalten: Ein langer Tisch, auf dem sich DJ-Equipment, eine Lampe und eine Discokugel befinden. Direkt davor, auf dem Boden, ist ein großes Dreieck aus silbern funkelndem Stoff ausgebreitet. Im Hintergrund werden Bilder einer mobilen Kamera projiziert. Daneben leuchten deutsche Übertitel für die italienischen Textpassagen.

Festwochen / Alessandro Sala per Centrale Fies
Silvia Calderoni bewegt sich zwischen den Geschlechtern und darüber hinweg
Autor Eugenides liefert Vorlage
Das Dreieck steht visuell im Zentrum der Bühne. Man assoziiert das die Scham bedeckende Feigenblatt - oder etwas moderner: den Triangelslip. Zugleich steht es als Symbol für das Dritte und damit für die Überwindung des Binären. Ein weiterer inszenatorischer Wink in Richtung eines Geschlechts, das sich weder als weiblich noch als männlich klassifizieren lässt.
Die erzählerische Grundlage der Performance bildet der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Roman „Middlesex“ (2002) des US-Autors Jeffrey Eugenides. Die fiktionale Geschichte des Hermaphroditen Calliope, später Cal, vermischt Calderoni mit der eigenen, realen Biographie. Das Gefühl von Authentizität wird dabei stets in den Mittelpunkt gerückt - und im Gegenzug Kenntnis der literarischen Vorlage nie vorausgesetzt.
Cal wird als Mädchen („F“) geboren, die gesamte Jugend hindurch auch als solches behandelt - doch die eigene Identität ist dem Kind stets unklar, es zweifelt am eigenen Geschlecht und ändert es schließlich. Wenn Cal aus der Jugend erzählt, geht es auch um Familie und Freunde, um deren Reaktionen wie um die eigene Gefühlswelt, die sich stets im Wandel befindet. Auf der Suche nach der eigenen, „richtigen“ Identität erfindet sich Cal ständig neu.
Körperlichkeit im Fokus
Begleitet wird Cal bei dieser Selbstfindung von rund 20 Songs, vom französischen Electro-Pop-Duo Air bis zu den US-Indie-Rockern Yeah Yeah Yeahs. Calderonis Bewegungen haben ein entsprechend breites Ausdrucksspektrum, das sich sowohl in Tempo, als auch Sanftheit der Erzählung anpasst - und stets den Körper in den Fokus rückt.

Festwochen / Alessandro Sala per Centrale Fies
Auch mit Videoprojektionen wird Körperlichkeit sichtbar gemacht
Silvia Calderoni ist fast konstant in Bewegung, wechselt fließend zwischen Wort und Tanz, zieht sich auf der Bühne um und aus und präsentiert mit großem Mut und sehr freizügig einen Körper, der kräftig und fragil zugleich ist, männlichen und weiblichen Schönheitsidealen trotzt und dennoch schön ist.
Calderonis Performance knüpft aber auch an den akademischen Gender-Diskurs an: Immer wieder werden feministische Philosophen zitiert, allen voran Paul B. Preciado, der selbst als Frau auf die Welt kam. Auch Judith Butlers Überlegungen zu Gender als ständiger Performance klingen durch. Und selbst Nietzsche bleibt nicht unerwähnt, sein apollinisch-dionysisches Konzept stammt aus der griechischen Mythologie, die wiederum durch die Figur des Hermaphroditos auf der Bühne zitiert wird.
Auf der Suche nach dem „Ich“
Hinweis
„MDLSX“ ist im Rahmen der Festwochen noch bis 6. Juni, jeweils um 20.00 Uhr, im Wiener Schauspielhaus zu sehen. Am Sonntag findet im Anschluss an die Vorstellung ein Publikumsgespräch statt.
Gemeinsam mit der italienischen Theatergruppe Motus - besonders erwähnt sei Alessio Spirli, der die Bühne in grelle Farbtöne taucht und damit für eine Atmosphäre zwischen Club und Traumwelt sorgt - beschäftigt sich Calderoni mit den elementaren Fragen des eigenen Lebens: „Wer bin ich?“, oder auch: „Was bin ich?“. Die Antwort darauf wird umso schwieriger, je weniger sie in gewohnte Kategorien passt.
Am Premierenabend wird klar: Silvia Calderoni setzt sich über jede Kategorie hinweg und ist der Star des Abends. Jenseits jeder Geschlechtergrenze wird die damit verbundene Freiheit, das Ungezwungensein, auch im Zuschauerraum spürbar. Die Suche nach der eigenen Identität endet nicht bei der Sprache, das veranschaulicht „MDLSX“ deutlich. Das ist eine eigenartige, ungewohnte und vor allem höchst individuelle Erfahrung, die das Publikum mit kräftigem Applaus belohnt.
Florian Bock, ORF.at
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