Whistleblowing als Passionsspiel
„Einen Arzt, schnell! Wir brauchen einen Radiologen!“ - Gianina Carbunarius Stück „Gewöhnliche Menschen“, eine Produktion des Nationaltheaters Radu Stanca im rumänischen Sibiu, beginnt mit dem dramatischen Störfall. Ein Mensch bricht zusammen und wird vielleicht sterben, denn es ist kein Arzt da, um ihn zu röntgen. Alle Radiologen, die in diesem Spital in Bukarest zum Dienst eingetragen sind, schwänzen wie üblich ihre Schicht, um in einer Privatordination besseres Geld zu machen. Der Kollaps des Individuums spiegelt den Kollaps des Systems.
Carbunarius Fokus liegt in diesem Fall - wie in sechs anderen, in Italien, England und Rumänien recherchierten Fällen von Amtsmissbrauch, Machtmissbrauch und Schädigung der Allgemeinheit - auf jenen sieben Menschen, die den Störfall ans Licht bringen, den Whistleblowern. Es sind keine großen Namen, die Schlagzeilen machen, wie Edward Snowden oder Herve Falciani, sondern - wie es der Titel des Stücks schon sagt - „Oameni Obisnuiti“, zu deutsch: „Gewöhnliche Menschen“. Gewöhnliche Menschen mit einem vielleicht besonders stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, denn oft handeln sie zwar zum Wohl der Allgemeinheit, aber zugleich gegen die eigenen Interessen.
Aktualitätentheater mit Ausrufezeichen
Die Ärztin etwa, die die Missstände in der radiologischen Abteilung anzeigt, wird von der Spitalsleitung gedemütigt und entlassen. Auf der Bühne des Wiener Theaters Akzent blickt ihre platinblonde Darstellerin traurig in eine Kamera. Von der Wand herunter beschreibt ihr Videobild - das Gesicht in Großaufnahme - den Moment des Schocks: „Es ist Mittag. Ich komme nach Hause und schaue mir die vier Wände an. Ich gehe wieder raus und kaufe mir ein Kleid. Ich verstehe nicht, was passiert, es muss ein Missverständnis sein.“ Carbunarius Whistleblower sind keine Superhelden. Sie sind manchmal ratlose, oft überforderte Menschen, die gut sein wollen und dafür bestraft werden.

Festwochen / Sebastian Marcovici & Adi Bulboaca
Wer den Spitalsbetrieb kritisiert, muss den Kittel abgeben
Alle sieben Fälle, die Cabunarius Stück verhandelt, basieren auf Videointerviews, die die Regisseurin im Vorfeld mit Whistleblowern in Italien, England und in ihrer Heimat Rumänien geführt hat - Ausschnitte aus diesen Gesprächen zeigt sie am Ende des Stücks. In den Bühnendialogen selbst hat Carbunariu diese Schicksale im sprachlichen Präsens aufbereitet, was dem Ganzen einen zusätzlichen Anstrich von Dringlichkeit gibt: „Ich erleide kleinere Hirnblutungen, habe Panikatacken, Gedächtnisverlust, Konzentrationsschwierigkeiten, kann nicht schlafen“, beschreibt die Ärztin ihren Kampf gegen die Institution und seine psychosomatischen Folgen: „Ich verliere 27 Kilo in zwei Monaten.“
Appell zur Aufopferung für die Allgemeinheit
Dieser „Seht-Her-Meine-Schmerzen“-Gestus wiederholt sich in jedem der sieben Kapitel und wächst sich im Chor der vielen Whistleblower-Schicksale zu einer Art Passionsspiel für die Gerechtigkeit aus. Mit der Zeit drängt sich die Frage auf: Kann die eigene Aufopferung als vorbildliche, politische Haltung durchgehen? Was ist der eigentliche Appell von Carbunarius Stück?

Festwochen / Sebastian Marcovici
Amtsmissbrauch im Spital: „Wir bezahlen Ärzte, die gar nicht da sind“
Gelegentlich verlassen die Schauspieler die Bühne, wandern durch den Zuschauerraum und fragen plötzlich ins Publikum: „Na, was verdienst du?“ Auf der Bühne lernt man, dass die einen ihr Geld auf die Cayman-Inseln schaffen oder stundenlang ins Fitness-Studio gehen, während andere mit dicken Aktenstapeln im Büro schuften und die Arbeit der Faulenzer tun. Eine Welt in Schieflage. Gut und Böse. Ausgebeutete und Ausbeuter. Aufdecker und Vertuscher. Das hier ist der redliche Versuch, politisches Aktualitätentheater mit klaren Fronten zu machen. Nicht subtil, sondern mit Ausrufezeichen. Doch auf Dauer greift der Empörungsgestus ebenso kurz wie die Einteilung von Menschen in Kategorien.

Festwochen / Sebastian Marcovici & Adi Bulboaca
Arbeitsbalance in der Schieflage: Eine tut die Arbeit für alle anderen
Im Interview mit ORF.at erklärte die Regisseurin im Vorfeld, sie sei überrascht gewesen, wie stark eine einzige, moralische Entscheidung das Leben einer Person aus der Bahn werfen könne: „Darüber wissen wir viel zu wenig, obwohl es uns doch alle betrifft. Es passiert überall, jedes Jahr gibt es mehr Whistleblower: Sie kommen zwar aus unterschiedlichen Ländern und Bildungsschichten, aber trotzdem ähneln sich ihre Geschichten.“
Einzelschicksale statt Systemkritik
Hinweis
„Oameni obisnuiti“ („Gewöhnliche Menschen“) ist bei den Festwochen noch am 1. und 2. Juni zu sehen.
Gerade diese Ähnlichkeit der Geschichten bildet aber in ihrer dramatischen Umsetzung eine weitere Crux des Stückes. Denn der Ablauf des Abends ist schon nach Abhandlung von Fall eins klar: Ein Missstand wird dargestellt. Es folgt der Aufschrei - und anschließend der Spießrutenlauf von Aufdeckerin oder Aufdecker. Diese Dramaturgie wirkt in der sechsmaligen Wiederholung ermüdend.

Festwochen / Adi Bulboaca
Nichts hören, nichts sehen: Mihai Pacurars gewitztes Bühnenbild kommentiert das Geschehen mit Piktogrammen
Spätestens ab Mitte des Abends fragt man sich: Sind es wirklich selbstsüchtige Individuen, die den funktionierenden Sozialstaat ruinieren? Oder hat nicht vielleicht doch das System an sich etwas damit zu tun? Immer wieder geht es hier, auf der Bühne der Arbeiterkammer, um den Begriff der Arbeit - und das Bedrohungsszenario, sie zu verlieren, wenn man den Mund aufmacht. Aber in welchen Beschäftigungsverhältnissen stehen eigentlich Aufdecker und Vertuscher? Sind sie verbeamtet, angestellt, prekär beschäftigt oder von einer Zeitarbeits-Agentur vermittelt?
Wo gibt es Druck, wo existenzielle Überforderung, die das „unmoralische Handeln“, das hier angeprangert wird, provoziert? So präzise Carbunariu die individuellen, körperlichen Symptome schildert: Wo es um konkrete Fakten für eine notwendige Systemkritik geht, bleibt „Gewöhnliche Menschen“ leider ungewöhnlich nebulös.
Maya McKechneay, ORF.at
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