Festwochen

ORF.at/Simon Hadler

Ein Bischof mit ausgebeulten Jeans

Fjodor Pawlow-Andrejewitsch mag unscheinbar wirken, wenn man ihm auf der Straße begegnet. Zur imposanten Erscheinung wird er allerdings, sobald seine Kunst ins Spiel kommt: Da geht es ums Innerste, ums Tiefste, ums Ganze. Alles darunter wäre ein Kompromiss. Nun ist in Wien sein kompromissloses Performance-Karussell zu sehen.

Seine Kunst, Kunst überhaupt, sagt Pawlow-Andrejewitsch im Gespräch mit ORF.at, hat etwas Religiöses, er selbst sei so etwas wie ein Bischof. Das klingt nur auf den ersten Blick abwegig. Der erste Blick auf das Karussell zeigt durch Trennwände abgeteilte Kreissegmente, Kämmerchen in Tortenstückform, jeweils von einem Künstler bespielt, den Pawlow-Andrejewitsch eingeladen hat. Dort gehen Dinge vor sich, bei denen viele nicht unbedingt an eine Kirche denken werden. Das Befummeln von Männern mit ausgebeulten Jeans etwa. Oder ein vor Publikum onanierender Mann, der lieber eine Frau wäre.

Vorraum d Performance Karussels

Maya McKechneay

Die Künstler des Karussells stellen sich vor

Aber, sagt Pawlow-Andrejewitsch: Die Religion habe früher Menschen bewegt, tief bewegt sogar, und diese Rolle komme nun der Kunst zu. Körperlich müsse sie sein, und das nimmt Pawlow-Andrejewitsch in vielerlei Hinsicht wörtlich. Sein Anspruch an ein Kunstwerk ist es, Menschen zum Weinen oder Lachen zu bringen, Gänsehaut, einen erschrockenen Schritt zurück oder einen eregierten Penis zu verursachen. Was auch immer: Der Körper muss reagieren - und zwar nicht auf billige Effekte, sondern auf die Offenbarung des Innersten, eine Reinigung durch Katharsis für alle Beteiligten, für die Künstler genauso wie die Besucher.

Große Rituale

Damit eine solche Vorstellung nicht in Beliebigkeit versinkt und dem reinen Sensationalismus anheimfällt, braucht es Rituale, eine weitere Parallele zur Religion. Dementsprechend steht gleich am Anfang die ganz große Geste: Jeder Besucher des Karussells unterschreibt eine Erklärung, dass er den Raum während der Performance nicht verlassen wird und damit einverstanden ist, von anderen Besuchern gefilmt, fotografiert und über Social Media geteilt zu werden. Wer sich bereiterklärt, das Trimm-dich-Rad zu treten, von dem das Karussell angetrieben wird, bekommt einen orangefarbenen Sticker auf die Brust.

In weihevoller Atmosphäre geht es in den hellen Vorraum. Bänke stehen bereit. Dann startet auf einer gebogenen Panoramaleinwand eine schwarz-weiße Videoprojektion, sie nimmt die Kreiselbewegung des Karussels vorweg. Eine Lautsprecherstimme fordert in dikatorischem Tonfall: „Close your eyes“ - dann darf man sie wieder öffnen: Zu sehen sind, großflächig, Gesichter von Männern und Frauen. Zunächst haben auch sie die Augen geschlossen - sie ziehen vorbei. Dann hält die Drehbewegung an. Ein Augenpaar öffnet sich. Ein Gesicht beginnt zu sprechen.

Eine Bußorgie

Zuletzt auch Pawlow-Andrejewitsch, der auf Englisch von einer frühen Erfahrung mit einer Prostituierten erzählt. Einer Erfahrung, die ihn im Nachhinein beschämt. Im Gespräch mit ORF.at führt er näher aus, wie es dazu gekommen ist. Denn Pawlow-Andrejewitsch hatte ein Leben vor der Kunst, das nicht weniger spektakulär war als jenes danach. Schon als 13-Jähriger moderierte er eine Jugendsendung im TV und blieb ein Dauergast auf russischen Bildschirmen, bis er mit 28 entnervt und desillusioniert das Handtuch warf.

Während seiner Zeit als junger Promi hielt er auf dem Heimweg vom Studio regelmäßig bei Prostituierten und ließ sich im Auto einen „Blowjob“ verpassen. Einmal hatte es minus 30 Grad und es dauerte lange, bis er ein Mädchen fand. Sie war hochschwanger, fror, und hatte ein großes Redebedürfnis. Eigentlich hätte er ihr Geld geben und sie in Ruhe lassen sollen, das weiß er heute. Damals jedoch ließ er sie ihren Job erledigen.

Fyodor Pavlov-Andreevichs Hose

Maya McKechneay

Ist das Fjodor Pawlow-Andrejewitsch?

Nun tut er Buße und lässt ein Demütigungsritual über sich ergehen. Fünf Fensterchen kann der Besucher öffnen und den dahinter stehenden Männern durch ihre Jeans an den Penis und die Hoden fassen. Dann darf geraten werden, wer von ihnen der Künstler ist. Einziger Anhaltspunkt: wie prall gefüllt die Hose ist. Aber ist er als Künstler tatsächlich der coole Hund, der immer eine Schwanzlänge voraus ist? Die Antwort bleibt er den Besuchern schuldig, das muss er nur mit sich selber ausmachen.

Embryonale Wucht

Also weiter im Karussell, zu jener Station, die Bewegungen von Babys im Mutterbauch imitiert. Man lässt die eigene Hand an einer Gummiwand entlanggleiten, bis sich von der anderen Seite plötzlich etwas entgegenstemmt, klatscht, tritt, schlägt: ein Kinderbein vielleicht. Die Wucht überrascht zumindest die Unerfahrenen.

Überraschungsmomente bieten sich auch hinter der nächsten Tür: Wer in Andres Knobs Therapiekabine die Schuhe auszieht, darf auf einer bequemen Couch Platz nehmen. Der Performer fragt freundlich: „Was willst Du der Nachwelt hinterlassen?“ Man traut sich vertraut mit ihm zu sprechen und bekommt am Ende der Sitzung ein individuelles Geschenk.

Veranstaltungshinweis

Das Karussell dreht sich im Festwochenzentrum im Künstlerhaus noch täglich bis 22. Mai, der Einstieg ist jeweils zur vollen Stunde von 17.00 Uhr bis 21.00 Uhr möglich.

Sexy Hausmütterchen?

Die nächste Station lädt dazu ein, im knappen Hauskleidchen zu bügeln. Es steckt mehr dahinter als eine platte Kritik am Frauenbild der 50er Jahre, als das „Heimchen am Herd“ für den Gatten zu Hause auch noch sexy sein sollte. Auch hier steht die persönliche Geschichte einer Künstlerin im Vordergrund. Evamaria Schaller erzählt, dass ihre Kindheit nicht zuletzt vom - durchaus generationsimmanenten - Putzfimmel der Mutter geprägt war. Besonders das Bügeln war der Künstlerin verhasst. Sie bügelt nie. Außer jetzt - im Karussell.

Eine andere Künstlerin lädt dazu ein, sich von ihr private Gegenstände auszuborgen. Sie bekommt von ihrer Verwandtschaft aus der Heimat immer wieder Nippes und andere Kleinigkeiten geschickt und möchte das Zeug nun ein letztes Mal mit Gefühlen aufladen lassen, bevor sie sich - vielleicht - davon trennt. Intimität soll sich herstellen und tut es auch, wenn die Performerin einen dabei beobachtet, wie man mit ihrem Federballspiel am Rande des Karussels trainiert. Sie lächelt. Dann zieht sie sich aus.

Mitmachen oder daneben stehen?

Aus einem riesigen Haufen Blumenerde ragen die behaarten Beine eines weiteren Künstlers: Er liegt hier begraben, einen Kasten mit Luftzufuhr um seinen Kopf. Über einen Lautsprecher kann man Musik und Töne abspielen, auf die er mit seinem Gesichtsausdruck reagiert. Man sieht ihn über eine eingebaute Kamera auf einem Monitor. Eine etwas einseitige Form der Kommunikation.

Fyodor's Performance Carousel

Maya McKechneay

Lebendig begraben

Eine schöne Einsicht gibt es bei einem der Segmente: Die schwarz gekleidete Begleitperson fragt einen, ob man lieber Zuschauer oder Akteur sein will. Hat man sich einmal entschieden, gibt es kein zurück: Nein, Sie haben entschieden, Zuschauer zu sein. Entweder oder. Mitmachen geht jetzt nicht mehr. Da ist die junge Dame streng. So ist das vielleicht: zuschauen oder Teil von etwas sein - eine Entscheidung, die man sich nicht nur beim Performance-Karussell stellt.

Das Performance-Karussell

Hier sieht man das Performance-Karussell im Aufbau - samt Fjodor Pawlow-Andrejewitsch. Bevölkert sieht das freilich noch einmal ganz anders aus.

Büchse der Pandora

Wenn man Außenstehenden vom Karussell, oder überhaupt von aktueller Performance-Kunst erzählt, bekommt man mitunter zu hören: „Das geht echt noch? War doch alles bei den Aktionisten schon da.“ Mag sein, dass auch die Aktionisten nackt waren und dass auch Hermann Nitsch bei seinem Orgien-Mysterien-Theater das religiöse Element in den Vordergrund rückt und auch Valie Export sich im Tapp- und Tastkino begrapschen ließ. Aber allen Skeptikern sei empfohlen, selbst zum Karussell zu kommen und mitzumachen.

Es ist ein intensives Erlebnis. Man ist berührt, im Wortsinn, und wird auf sich selbst zurückgeworfen. Die Offenheit der Künstler zwingt den Besucher, sich ebenfalls zu öffnen. Wer Angst hat, sich als Büchse der Pandora zu entpuppen, kann ja zu Hause blieben - oder erst recht kommen.

Simon Hadler und Maya McKechneay, beide ORF.at

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