„Zeigen, was Wien noch nicht gesehen hat“
Im gemeinsamen Gespräch mit ORF.at erklären Hinterhäuser und Davydova auch, wie es zur Bestellung der russischen Theaterexpertin und -kritikerin als Schauspielchefin kam, warum man sehr wohl bekannte Namen braucht - und wie man den Spannungsbogen eines Festivals für gut sechs Wochen in einer Stadt mit einem Kulturangebot wie Wien halten muss.
ORF.at: Frau Davydova, als Theaterkritikerin kennen Sie die Festwochen schon seit den 90er Jahren. Was ist das Besondere an diesem Festival?
Marina Davydova: Die Festwochen funktionieren für mich als seltsame Kombination, die es sich leisten kann, auf der einen Seite konservativ, auf der anderen Seite ganz avantgardistisch zu sein. Guter Mainstream trifft auf radikale Experimente. Das mag ich.
ORF.at: In den letzten Jahren gab es bei den Festwochen immer einige herausragende Produktionen, die im Gedächtnis blieben. „Orpheus und Eurydike“ in der Inszenierung von Romeo Castellucci oder William Kentridges „Winterreise“ – suchen Sie jetzt als Schauspielchefin auch nach diesen Höhepunkten, oder können Sie es sich leisten, einfach zu programmieren, was Ihnen gefällt?
Marina Davydova: Ich mache eine lange Liste von Performances, die ich persönlich mag. Dann muss ich mich entscheiden. Klar, es gibt darunter große Namen wie Jan Fabre. Aber Leute, die man in Österreich noch gar nicht kennt, wie Konstantin Bogomolov, sind genauso spannend. Oder Dimitris Papaioannou: Der Mann ist ein Genie!

Festwochen
Dimitris Papaioannou performt (hier gemeinsam mit Michalis Theophanous) in „Primal Matter“: „Der Mann ist ein Genie!“
ORF.at: Ist diese Möglichkeit, Neues zu entdecken, zu einem Markenzeichen der Festwochen geworden?
Markus Hinterhäuser: Es ist schon ein Auftrag an die Festwochen, Dinge zu zeigen, die Wien so noch nicht gesehen hat. Man kann es mit einer Ausstellung vergleichen: Im Zusammenspiel treten Dinge in Kontakt. - Aber in einem fünfwöchigen Festivalprogramm, das 36 Aufführungen beinhaltet, muss man auch eine Statik finden. Die großen Namen – Christoph Marthaler, Frank Castorf, Jan Fabre, Simon McBurney, Achim Freyer –, es wäre ein Fehler zu sagen: Die sind so berühmt, die brauchen wir nicht mehr. Die sind ja berühmt, weil sie einfach gut sind. Wenn man diese Produktionen hat, kann man damit rechnen, dass sie auf andere neugierig machen.
ORF.at: Bemühen Sie sich auch darum, Leute neugierig zu machen, die normalerweise nicht ins Theater gehen, weil sie es als elitär betrachten? Und: Hindern die Kartenpreise vielleicht einige, sich dem Festivalrausch hinzugeben?
Markus Hinterhäuser: Die Preise der Wiener Festwochen sind sehr, sehr moderat. Die übertreffen nicht einen Ausgehsamstag in der Innenstadt. Wenn wir über Kartenpreise sprechen: Da muss man sich nur das Phänomen der Popmusik anschauen. Ob das Ältere sind, die zu Bob Dylan oder Leonard Cohen, oder Jüngere, die zu – jetzt weiß ich nicht – Tokio Hotel gehen. Da sind die Kartenpreise um so viel höher als bei den Wiener Festwochen, ja sogar höher als bei den Salzburger Festspielen. Da ist es ja auch kein Problem, das zu bezahlen.

APA/HERBERT NEUBAUER
Marina Davydova (2. v. l.) mit Markus Hinterhäuser (Mitte) bei der Festwochen-Pressekonferenz
ORF.at: Aber müssen und wollen sich die Festwochen um andere, neue Publikumsschichten bemühen?
Markus Hinterhäuser: Ja, damit komme ich zu einem politischen Aspekt: Wir sind als Institution mit guten Grund aufgerufen, für junge Leute etwas zu machen – das ist in Ordnung. Aber im Grunde gleichen wir bildungspolitische Defizite aus. Und für dieses Ausgleichen bekommen weder die Wiener Festwochen noch irgendeine Institution mehr Geld von der öffentlichen Hand. Es kostet aber alles, was wir an Angeboten für Jugendliche oder vermeintlich nicht Dazugehörige entwickeln, sehr viel Geld! Ein kompliziertes Problem – und für uns nicht leicht zu bewältigen.
ORF.at: In den vergangenen zwei Jahren haben sich die Festwochen, was das Musikprogramm betrifft, neu aufgestellt und den Fokus auf die zeitgenössische Musik gelegt – letztes Jahr auch im visuellen Bereich mit der Achim-Freyer-Inszenierung von „Luci mie traditrici/ Die tödliche Blume“. Was ist heuer vom Musikprogramm zu erwarten? Was ist der besondere Schlusspunkt mit Markus-Hinterhäuser-Handschrift?
Markus Hinterhäuser: Es fällt mir nicht leicht, über meine „Handschrift“ zu sprechen: Ich bin Musiker und habe immer großes Interesse am Zeitgenössischen gehabt. In gewisser Weise war für mich „Orpheus und Eurydike“ (Castelluccis Inszenierung, die 2014 eine Wachkomapatientin im Videolivestream auf die Bühne holte, Anm.) die zeitgenössischste Oper, die ich je gesehen habe – weil darin das Leben in das Kunstwerk eingegriffen hat. Das war, um Franz Schuh zu zitieren, keine „Tapezierung unseres Innenlebens“, sondern das ging weit darüber hinaus. Aber die Wiener Festwochen sind, anders als die Salzburger Festspiele, kein primär eigenproduzierendes Festival, sondern ein Festival, das einlädt. Der Versuch, auch selbst Opern zu produzieren, geht nicht ganz anstrengungslos vorbei.

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In Yasmeen Godders exzessiver Performance „Climax“ bewegen sich Publikum und Performer gemeinsam frei im Raum
ORF.at: Einige Produktionen werden auf sehr direkte, körperliche Art mit dem Publikum in Kontakt treten. Jan Fabres 24-Stunden-Tanz-Marathon allein durch seine Dauer oder Signas Performance „Wir Hunde“ durch die Nähe von Publikum und Darstellern auf engstem Raum: Muss gutes Theater körperlich berühren?
Marina Davydova: Der Körper ist einfach ein großes Thema im Gegenwartstheater. Nicht zufällig ist der moderne Tanz mittlerweile fixer Bestandteil des Theatergeschehens. Vor 20 Jahren gab es das noch kaum. Ich glaube, dass die Grenze zwischen Darstellern und Publikum im Theater immer mehr verschwimmen wird. Wie bei Jan Fabre oder Yasmeen Godder: Das Publikum ist als Koautor an der Aufführung beteiligt. Die Theatermacher kennen nicht schon alle Antworten, sie stellen auf der Bühne nur die Fragen.
ORF.at: Sie leiten in Moskau auch ein Theaterfestival. Wie unterscheidet sich das Festivalmachen in Moskau von Wien?
Marina Davydova: Nehmen wir den Katalog. Ich habe gestaunt, als ich gehört habe, dass in Wien 70.000 Festwochenkataloge gedruckt werden. In Moskau wären es vielleicht 300, und die würden fünf Tage vor dem Festival schnell für die Sponsoren gedruckt, damit die ihr Logo auf Seite eins sehen (lacht). Hier wird der Katalog für das Publikum gemacht, das sich wirklich darauf freut, auszuwählen.
Das Interview führten Gerald Heidegger und Maya McKechneay, ORF.at