Szenenbild der Produktion Antigonon

Festwochen/Sergio Leyva Seiglie

„Antigonon“: Back to the Roots ohne Google

Braucht man in Kuba Internet? Nein, sagen Autor Rogelio Orizondo und Regisseur Carlos Diaz. Nachgoogeln kann man auch im Werk des Nationalhelden und Dichters Jose Marti. Bei der Premiere und dem ersten Europagastspiel von „Antigonon“ entfalten sie ein breites, bildreiches Panorama der kubanischen Gesellschaft. Vor einer Revolution. Auch der digitalen.

Marti ist nicht nur Nationalheld, Dichter, Namensgeber eines Fernsehkanals und Vorlage für Denkmäler, sondern auch Nachschlagewerk für Texte, Ideen und Emotionen. „Die Sprache ist vielleicht das Einzige, das uns mit unseren schmutzigen Händen bleibt!“, stellt Orizondo fest und formt aus der Poesie der Fäkalsprache den Widerstand. Der 1983 geborene Autor und Theatermacher wurde 2013 für „Antigonon“ mit dem kubanischen Kritikerpreis ausgezeichnet.

Umgesetzt hat das auf Martis Versen basierende Schauspiel der kubanische Regisseur Diaz, der in seiner Heimat zu den gefeiertsten und am heißesten diskutierten Namen der Theaterszene zählt. Er verwebt in der Produktion Gesang, Choreografie sowie Nacktheit und Haute Couture zu einem gelungenem Ganzen, das jedoch aufgrund der Vieldeutigkeiten und sprachlichen Tempi nicht ganz einfach zu entschlüsseln ist.

„Heimat, ich will an dich glauben!“

Die packenden Gedichte des Poeten Marti führten im 19. Jahrhundert die Sklaven in den Befreiungskampf gegen das damals herrschende Spanien. Gleich Antigones aussichtslosem Kampf gegen unmenschliches Gesetz erheben sich die Sklaven gegen die Kolonialmacht. Marti wird in Kuba nicht als verstaubter Dichter angesehen, sondern in seinem Denken von der kubanischen Jugend als Zeitgenosse verstanden.

Szenenbild der Produktion Antigonon

Festwochen/Lessy Montes de Oca

Darsteller des Ensembles Teatro El Publico aus Havanna

Orizondo bettet die berühmten Verse des Poeten in ein zeitgenössisches Umfeld und entwirft eine Aneinanderreihung von absurden Begegnungen, die das Ensemble des Teatro El Publico aus Havanna leidenschaftlich und kompromisslos umsetzt. Die hehre Vorstellung von Freiheit lässt sich mit der harten Realität der kubanischen Bevölkerung nur schwer vereinen, wie der Autor immer wieder deutlich aufzeigt. Da hilft auch wahre Heimatliebe nichts.

Der alte Affe im Kochtopf

„Wir wollen essen! Wir wollen scheißen!“, heißt es einmal. Grundbedürfnisse wie Nahrung oder eine funktionierende Wasserspülung werden in Kuba nur unzureichend befriedigt. Erstklassiges Fleisch sei ihr versprochen worden, erzählt eine der Figuren, bekommen habe sie nur einen alten Affen, den sie trotzdem gekocht hat. Das Schauspiel thematisiert die Lebensrealität der kubanischen Bevölkerung und ihren täglichen Kampf und Überlebenswillen. Denn bevor an Revolution und Heldentum zu denken ist, will die Grundversorgung befriedigt sein.

Veranstaltungshinweis

Die Produktion ist noch am 25., 26. und 27. Mai im Theater Akzent zu sehen. Am 25. Mai findet im Anschluss an die Vorstellung ein Publikumsgespräch statt.

Orizondo und Diaz hinterfragen in ihrem Schauspiel den Heldenmythos und die Heimatliebe und zerlegen beides in aberwitzige, teilweise halsbrecherisch schnelle Szenenfolgen. Einzelne Figuren sind während des Spiels nur schwer auszumachen. Die agierenden Personen sind eins: Kuba und die Kubaner.

Doppeldeutigkeiten und Metaphern

Eine alte Frau mit Buckel und einem Koffer gibt sich als Patria, Heimat, zu erkennen. Die Zeichen der Szene richtig zu deuten ist nicht ganz einfach. Denn der Koffer ist kein belangloses Accessoire, wie Übersetzerin Monika Kalitzke erklärt. Das Wort „maletin“ im Originaltext bedeutet im Kubanischen nicht nur Koffer, sondern steht auch für Schwierigkeiten. Die Probleme des Landes ließen sich mit dem Koffer als Zeichen der Problematik Kubas am besten in die Theatersprache übersetzen und darstellen.

Szenenbild der Produktion Antigonon

Festwochen/Lessy Montes de Oca

Figur aus „Antigonon“ im Kettenoutfit

Das Stück sei voller Andeutungen, Doppeldeutigkeiten und Metaphern, so Kalitzke weiter. Die langjährige und erfahrene Übersetzerin hat sich für den spanischen Text Unterstützung beim Kubaner Ernesto Rodriguez geholt. Er half bei kreativen Wortschöpfungen und außerhalb Kubas unbekannten Slangwörtern, die auch im Internet nicht zu finden waren. Allein dem Internet schenkt Orizondo einen eigenen Auftritt, den man im Publikum ob der Absurdität mit Gelächter quittiert. Nur: Absurd bedeutet hier wahr und nicht erfunden.

Übertreibung ist Realität

Internet ist auf der Insel ein rares Gut. Das Checken von E-Mail-Nachrichten ist ein langwieriger und komplizierter Prozess, den Autor Orizondo nur zu gut kennt. Online ist man in Kuba nicht zu Hause oder praktisch am Mobiltelefon, sondern an anderen Orten wie dafür vorgesehene Läden. Wenn vor manchen Hotels kurzfristig Grüppchen von Einheimischen ihre Telefone in Richtung Lobby halten, heißt das, dass sich das für Kubaner nicht zugängliche WLAN-Passwort herumgesprochen hat.

Homosexualität galt als Krankheit

Der Mangel an Internet ist indes eine Kleinigkeit im Gegensatz zu den politischen Verweisen des Schauspiels. Wenn der im Ausland weilende Bruder von einem Stutenrennen erzählt, hat das im Stück nichts mit Pferden zu tun. Das spanische Wort für Stute bezeichnet in Kuba auch den Homosexuellen. Bis 1979 stand Homosexualität unter Strafe. Vom Schwulsein, das als Krankheit gesehen wurde, sollten die Betroffenen in Umerziehungslagern mit schwerer Feldarbeit geheilt werden.

Szenenbild der Produktion Antigonon

Festwochen/Sergio Leyva Seiglie

Kostümwechsel finden teilweise auf der Bühne statt

Viele der damaligen Intellektuellen wurden wegen ihrer homosexuellen Neigungen in die Lager, die Unidades Militares de Ayuda a la Produccion, geschickt. Wenn die Schauspieler laut die Sätze „Alle Theaterdirektoren sind homosexuell! Alle hochbegabten Dramaturgen sind homosexuell!“ skandieren, bleibt einem das Lachen im Halse stecken.

Mutterliebe, Heimatliebe

Zu den beeindruckendsten Auftritten des Premierenabends zählt jener der Schauspielerin Linnett Hernandez als berühmte kubanische Freiheitskämpferin Mariana Grajales Coello. Hernandez entledigt sich ihres roten Kleides und erzählt metapherngeschwängert von der Mutter, die sie getragen hat, als ihr Füße bluteten.

Marti hatte die echte Grajales auf dem Schlachtfeld erlebt und schrieb: „In Gegenwart solcher Frauen ist es leicht, ein Held zu sein.“ Groß, dunkelhäutig und wunderschön thront Hernandez allein auf der Bühne und versteht es mit ihrer Präsenz, Martis Aussage gerecht zu werden. Dass sie nackt ist, rückt dabei völlig aus dem Bewusstsein.

Viva la Cuba!

Am Schluss der Vorstellung wird es dunkel. Das Publikum wartet, wohl in der Hoffnung, das Stück möge noch nicht zu Ende sein. Dann wird begeistert applaudiert, ein lauter „Viva la Cuba!“-Ruf ist zu hören. Es wurde wahrlich viel geboten an diesem Premierenabend. Einziger Wermutstropfen ist das Informationsmanko. Schade, dass im Programmheft nicht die Möglichkeit genutzt wurde, mehr über die Hintergründe zu informieren.

Vielleicht ist auch hier die Realität nahe am Stück: Die Sprechweise der Darsteller in manchen Szenen erinnert, ebenso wie manch gewechseltes Kostüm bzw. Uniform, an das kubanische Nachrichten-TV. Dem Besucher wird vermittelt, wie der Staat das Volk mit ausgewählten Information versorgt. So bleibt auch das Festwochen-Publikum mit manchen Bilder sich selbst überlassen, hat aber mit Sicherheit mehr als nur einen alten Affen bekommen.

Carola Leitner, ORF.at

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