Sznenebild Jephta. Schauspieler auf Tisch

Stefan Gloede

„Jephta“: Liebe, Krieg und Kastration

Kann man ein Oratorium als Beinahe-Oper bringen? Ja, sagt die gefeierte US-Amerikanerin Lydia Steier und stellt bei den Festwochen Händels Spätwerk „Jephta“ über einen Vater, der für den Kriegserfolg die Tochter opfern soll, auf die Bretter eines langen Studiertisches. Dort treffen sich Liebende, die Familie und auch ein Therapeut - oder sagen wir gleich: Gott. Viel Applaus für ein gesungenes Psychodrama, das bei aller szenischen Virulenz dann doch den Holzhammer der Deutung mit dabei hatte.

Experimente ums Musiktheater auf höchstem Niveau - das ist gewiss einer der Programmschwerpunkte der heurigen Festwochen und erinnert daran, dass vor Jahren der erweiterte Bereich Oper eher zum Stiefkind dieses Kulturfestivals geworden war.

Nach fulminantem Auftakt mit Salvatore Sciarrino und Achim Freyer stand am Sonntagabend ein weiteres mit Spannung erwartetes Experiment in diesem Feld auf dem Programm. Georg Friedrich Händels spätes Oratorium „Jephta“, als szenisches Singspiel mit einem besonderen Erzählaufbau: einem Schauspieler, der den rezitativen Teil des Oratoriums übernahm, dabei aber gleich über seine Funktion hinaus deutelte und, wie zur Untermauerung, immer wieder mit dem Gehstock fuchtelte.

Premiere für Händels „Jephta“

In einer inszenierten Fassung hatte „Jephta“ Premiere im Museumsquartier: Die US-amerikanische Regisseurin Lydia Steier verpackt die tragische Geschichte des israelitischen Feldherrn Jephta in eine lehrreiche und spannende Schulstunde.

Therapeut in gottähnlicher Funktion

Der, der hier den Rahmen des Verstehens und der Interpretation setzte, war der Therapeut in gottähnlicher Funktion, auch wenn man ihn am Ende zum Didakten für ein anständiges Schülerkollektiv verkleinerte. Aber zu diesem Zeitpunkt waren ohnedies schon alle Männer auf der Bühne symbolisch kastriert - da durfte das höchste Wesen dann auch noch mal ran zur Entmannung. „Fein, Kinder, habt ihr das alle gut verstanden?“, lautete, überspitzt, seine eher rhetorische Frage zum Abgang.

Ja, man hatte sich über zwei Stunden eigentlich ganz brav an die Verstehensanweisungen gehalten in diesem Spiel, das ästhetisch zwischen Peter-Greenaway’schem Horrorkabinett und Christoph-Marthaler-artiger Personenverfremdung angesiedelt war. Jephta, der erwählte Kriegsherr der Israeliten, er trägt nun einen Wollpullunder, so wie beinahe alle Männer und Frauen im Raum, deren Zugehörigkeit zu Jephta ein aufgesticktes J-Emblem verkündet.

Ein Modellfall

Der Chor aus Schülerinnen und Schülern soll einen Modellfall studieren. Der Modellfall ist biblisch: Jephta befreit als Anführer der Israeliten in einem brutalen Feldzug sein Volk von den Ammonitern, die den Israeliten barbarische Götzendienste und Kindesopfer aufgezwungen hatten. Versprochen hat Jephta aber seinem Gott, Jahwe, das Opfer des ersten Wesens, dem er bei seiner Rückkehr nach der Schlacht begegnet. Und leider ist das die einzige Tochter, die sich gerade frisch ins Liebes- und Eheglück mit Hamor stürzen wollte. Man darf sich an andere große Stoffe erinnert fühlen, besonders den Idomeneo.

Jephta und sein Therapeut auf der Bühne

Stefan Gloede

Christian Ballhaus (links) als Sprecher, Therapeut und Gott (?), Lothar Odinius als gefeierter Jephta des Abends mit moralischen Nöten

Händel wirkt hier radikal modern, weil er die Seelenqualen Jephtas deutlich ausleuchtet, ja diesen schon zum Akt des Tötens der Tochter ansetzen lässt - bevor der rettende Engel kommt. Und dieser bringt eine „frohe“ Botschaft Gottes. Niemand muss sterben, wenn Jephta einsieht, dass „des Herren Sinn“ keine Opfertaten sind. Das ist zwar eher christlich denn alttestamentarisch gedacht, tut aber gar nicht so viel zu Sache, denn zu dem einen Gott bekennt sich Jephta zu gerne.

Freilich wird sein Stammbaum nicht weiter wachsen, soll sich doch seine einzige Tochter als Jungfrau dem Dienste Gottes verschreiben. Das ist zwar lebensrettend, aber für einen (Stammes-)Vater wenig tröstlich. Lothar Odinius als stimmlich eindrucksvoller Jephta sieht am Ende in szenischer Hinsicht nicht ganz glücklich aus der Wäsche. Ein siegreicher Feldherr, über die doppelte Bande entmannt, mit ihm gleich der Schwiegersohn mit. Tochter und Mutter, sie ziehen ein in den Priesterdienst und nehmen das gestisch so freudig entgegen, dass man sich am Ende vielleicht doch kurz auf die Bühne des Konzertsaales wünscht.

Wie viel Freud darf es sein?

Die Botschaft des Abends lautet, Gleiches nicht mit Gleichem zu vergelten. Das verkündet Christian Ballhaus als „Sprecher“ dieses Abends. Er stiefelt stolz um die Szenerie, als wäre er Sigmund Freud persönlich, der gerade sein Spätwerk über Moses hier an der Geschichte von Jephta approbiert.

Geschickt hat die Einführung des Therapeuten die gesamte Geschichte zu einer Analyse und Familienaufstellung gemacht. Dabei wird hier streng genommen vor den Augen des Publikums eine Familie ausgelöscht. Setzt man für die Familie die Vorstellung des Volkes, wird das Ganze so gruselig wie der Anblick der Babypuppen in den Nierenschalen, die seit dem Beginn der Inszenierung auf der Bühne herumliegen.

Oratorium als Stellvertreterspiel

In der Arbeit mit den Brüchen und Entfremdungen mutiert die Aufstellung des Oratoriums zu einem stilisierten Stellvertreterspiel auf mehreren Ebenen mit einer besonderen Rolle für den Chor. Er darf mal Volk, Richterkaste, Beobachter und Zuhörerschaft mit großer Aufnahmebereitschaft sein.

Die Umsetzung ist kunstvoll und verdichtet auf mehreren Ebenen. Beeindruckend an der szenischen Arbeit bleibt das Aufreißen einer Singhandlung in einen ständigen Bewegungsfluss, der die Sängerinnen und Sänger in die Ferne des am Rande agierenden Orchesters der Kammerakademie Potsdam unter Konrad Junghänel bringt ebenso wie den Chor der Potsdamer Winteroper.

Der Reiz des Abends liegt genau im stimmlichen Auseinandergehen des Chors durch die andauernde Bewegung auf der Bühne. Brillanz der Einzelstimme und Zusammenklang, das macht hier den vom Händel’schen Kontrapunkt angetriebenen Reiz. Ob das Oratorium grundsätzlich für die große Oper taugt, bleibt offen. Ohne den Griff zum Holzhammer hätte man die Szenerie vor den Augen des Publikums dann vielleicht doch nicht ganz zusammengehalten.

Gerald Heidegger, ORF.at

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