Iphigenie in einem asylähnlichen Bettenlager

Monika Rittershaus

Iphigenie und die Asylfrage

Komplette Heimatlosigkeit, Ausgeliefertsein und Aufstand gegen barbarische Gesetze – das ist die Iphigenie in der Wahrnehmung des späten 18. Jahrhunderts. Wenn in einer Inszenierung in der Gegenwart Iphigenie nicht nur auf Tauris gestrandet ist, sondern mit ihren Priesterinnen in einer Lagerumgebung sitzt, die auch Traiskirchen heißen könnte, dann scheint die momentane Asylproblematik Europas die Bühne erreicht zu haben.

In Salzburg wurde die von den Pfingstfestspielen wiederaufgenommene großartige Gluck-Oper „Iphigenie en Tauride“ ungeahnt politisch. Dem Triumphzug für das Sängerensemble um Cecilia Bartoli stand ein deutliches Fremdeln des Publikums mit der Regiearbeit von Moshe Leiser und Patrice Caurier gegenüber.

Es ist ein Paradoxon oder vielleicht auch Vorgeschmack auf die Dialektik der Nach-Aufklärung, dass ausgerechnet am Geschlecht der Atriden sowohl Johann Wolfgang von Goethe mit seiner „Iphigenie“ als auch der populäre Dramenautor Claude Guimond de la Touche die, wie Winckelmann sie nannte, „edle Einfalt und stille Größe“ demonstrieren wollten.

Wie edel können Atriden werden?

Eigentlich handelt es sich um eine Familie von Mördern, und auch wenn man die Missetaten in Mykene einem bösen Fluch zuschreiben mag, so wirkt gerade diese Sippe nicht prädestiniert, eine Reihe von Menschlichkeitspreisen einzufahren. Doch im europäischen 18. Jahrhundert war man offenkundig der festen Überzeugung, dass alle sich bessern und sich gerade die Kinder von der Last elterlicher Taten befreien könnten.

Als Christoph Willibald Gluck seine späte und äußerst erfolgreiche Oper „Iphigenie en Tauride“ aufbauend auf De la Touches Stück entwickelte, standen Religionskritik und Humanitätsideal hoch im Kurs. Iphigenie wird 1779 vollends zur Verwirklichung Rousseauscher Ideale: Sie folgt dem Gesetz der Natur, den Impulsen eines reinen Herzens und kontert gerade in ihrer prekären Rolle als Gefangene den von den Göttern und fremder Obrigkeit befohlenen Menschenopfer; in diesem Sinn kontert sie vor allem inhumanen Gesetzen, die der Herzensbildung entgegenstehen - und letztlich auch der unheilvollen Geschichte ihrer eigenen Familie.

Die Gestrandeten und das Opfer

Iphigenie soll auf Tauris mit Menschenopfern die Götter milde stimmen. So befiehlt es der Fremdherrscher Thoas, der sich auf göttliche Gesetze beruft - und eigentlich nichts als ein hilfloser Handlanger willkürlicher Gesetzeskraft ist. Iphigenie will dagegen aufstehen, und das noch mehr, als zwei Menschen aus ihrer alten Heimat Griechenland stranden. Bekanntlich ist einer dieser zwei Boatpeople ihr Bruder Orest (im Original: Oreste), der den Mord am Vater mit der Ermordung der Mutter und ihres Liebhabers gerächt hatte. Der andere, Pylades (im Original: Pylade), ist Freund und treuer Verbündeter, so treu, dass er sich auch für Orest opfern würde.

Szenenbild aus der Produktion

Monika Rittershaus

Boatpeople auf der Insel des Thoas: Rolando Villazon (l.) als Pylades und Christopher Maltman als Orest

Langsam erfährt Iphigenie von all dem, was sich in ihrer Heimat zugetragen hat – und davon, dass sie mittlerweile komplett ohne Familie dasteht. Ihren Bruder Orest hat sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkannt. Einem von beiden Männern, die sie opfern soll, will sie zur Flucht verhelfen. Es wird nach langem Hin und Her, bei dem jeder Freund den anderen in einem Humanitätswettlauf überzeugen will, dass er lieber selbst will, als den Freund sterben zu sehen, Pylades sein, der zurück nach Griechenland kehren soll.

Szenenbild aus der Produktion

Monika Rittershaus

Einem von beiden Griechen will Iphigenie zunächst das Leben schenken. Doch welcher von beiden wird geopfert?

Spätes Erkennen des Bruders

Erst im letzten Moment, als Iphigenie ihrem Opfer schon das Messer ansetzt, wird ihr klar, dass sie ihren Bruder ermorden würde. Ab diesem Zeitpunkt bricht sie mit allem, fordert sowohl Götter und Gesetze als auch den fremden Herrscher heraus. Als dieser zur Bestrafung ansetzen will, stehen aber schon die von Pylades herbeigeholten Truppen der Griechen vor der Tür.

Iphigenie setzt Pylades das Messer an

Monika Rittershaus

Cecilia Bartoli als Iphigenie und Christopher Maltman als Orest: Spät, fast zu spät, erkennt die Schwester den Bruder

Diana ex machina

Thoas fällt durch die Hand des Pylades, doch statt des großen Rachegemetzels auf einer Insel im Mittelmeer erscheint eine goldene Diana, ganz im Sinn vom Deus-ex-machina-Spezialisten Euripides: Sie erklärt die Taten Orests für gesühnt und setzt jenes Humanitätsideal in die Tat um, das Iphigenie letztlich immer nur herbeisehnen konnte.

Szenenbild aus der Produktion

Monika Rittershaus

Diana (Rebeca Olvera) erlöst alle vom bösen Fluch. Thoas (Michael Kraus), hinter ihr am Boden liegend, hat wenig davon.

Glucks Oper, sein fünftes Werk für die Pariser Academie Musicale, trägt das Attribut „Tragedie“, doch im Stil der Oper der Zeit, muss die Sache gut ausgehen. Auf der Bühne der Festspiele wirken die Hauptdarsteller so, als könnte man die rasche Handlungsentwicklung am Schluss noch nicht ganz realisieren.

Berührende Intensität

Cecilia Bartoli als Iphigenie und Christopher Maltman als Orest überzeugen gesanglich und darstellerisch. Bartoli präsentiert gerade die leisen Passagen mit berührender Intensität, klar und sehr zurückgenommen und geht betont auf die bei Gluck mögliche Scheidung von stimmlicher Melodieführung und Orchestrierung ein. Unterstützt wird sie von einem nuancierten Chor der Priesterinnen, der von Beginn an hilft, die Anmut dieser Oper zum Vorschein zu bringen.

Diego Fasolis mit dem Orchester I Barrochisti unterstützt die Wahrnehmung gerade der zarten, ja beinahe psychologisierenden Seiten dieser Reformoper Glucks, die sehr viel vom barocken Ballast abgelegt hat (und die man hier sehr reduziert und mit gestrichenen Balletteinlagen auf die Bühne gebracht hat). Maltman, der an diesem Abend auch nicht mit dem Anblick seines virilen nackten Körpers spart, ist ein gegenüber Pfingsten zurückgenommenerer, feinfühligerer Bruder.

Im dritten Akt lauert der Männerkitsch

Rolando Villazon als Pylades hat es in dramaturgischer Hinsicht nicht immer leicht, in dieser sich über den Abend hin anbahnenden Bruder-Schwester-Wahrnehmung zu glänzen. Seine Stärken spielt er aber im dritten Akt aus, als Pylades mit Orest im Dauerduett wetteifert, dass man eher selbst sterben und dem Freund das Leben schenken wolle: Bei solch großartigen stimmlichen Stars ist die Inbrunst des Männerkitsches trotz nüchterner Bühnengestaltung nicht ganz fern.

Szenenbild aus der Produktion

Monika Rittershaus

Pylades in der Hand der Schergen von König Thoas

Die feine musikalische Fokussierung dieses Abends und der Mut, gerade etwa bei der Ouvertüre stark zu modernisieren, etwa durch die Hereinnahme von Schlagwerksklängen, die akustisch an Hubschrauberflüge erinnern, stehen in starkem Kontrast zur Inszenierung, die alle vier Akte in einem nüchternen Lagerbunker ansiedelt.

Hinweis:

„Iphigenie en Tauride“ ist im Rahmen der Festspiele noch am 22.8., 24.8, 26.8, 28.8. zu sehen.

Eigentlich macht gerade diese Reduzierung auf der Bühne von Christian Fenouillat die Intensität dieser Oper deutlich und bringt, gerade über die wieder einmal feine Lichtführung von Christophe Forey, die inneren Dramen in den Charakteren zum Vorschein. Dem Publikum missfällt diese Art der Umsetzung wie schon zu Pfingsten deutlich hörbar. Da hilft auch eine komplett vergoldete in den Raum tretende Diana (Rebeca Olvera) am Ende nichts, die vielleicht ein bisschen zu postmodern das Humanitätsideal mit kecken Handbewegungen kommentiert.

Die offenen Fragen am Ende

Frenetisch werden die Sängerstars bejubelt und die Regie ausgebuht – da muss sogar Villazon im Schlussapplaus die Darsteller auf der Bühne zu demonstrativem Klatschen und Stampfen für die Regie antreiben.

Zum Ende öffnet sich der Blick aufs Meer, das hier unheimlich im Bühnenhintergrund in der Visualisierung des französischen Künstlers Ange Leccia flutet. Die angelegte Bild- und Symbolsprache der Inszenierung weist weit über diese Oper hinaus. Noch ist nichts gelöst an diesem Abend, der die Helden auf einer Insel im Mittelmeer stranden lässt und für sich noch die Aufgabe bereithält, tatsächlich eine auf humaneren Idealen aufbauende Gesellschaft zu verwirklichen.

Gerald Heidegger, ORF.at

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