Elina Pirinen sitzt auf dem Kopf ihrer Tänzerkollegin

Timo Wright

Schostakowitsch und der Schmerz

Kann man Dimitri Schostakowitschs zeithistorischer Wucht auf der persönlichen Ebene begegnen? Ja, sagt die Finnin Elina Pirinen beim ImPulsTanz und setzt den eigenen Körper in ganzer Macht dagegen. Die berühmte „Leningrader Symphonie“ samt ihrer politischen Anspielungen deklinierte sie gestern bei der Premiere im Wiener Odeon runter auf die Ebene von persönlicher Leidenschaft und Schmerz. Doch keine Geste ist privat - und der bei Schostakowitsch vor der Tür stehende Faschismus lauert bei Pirinen im Bett der Beziehung.

„Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen“, schloss Ludwig Wittgenstein einst. Und der in der Gegenwart so beliebte Slavoj Zizek hat ihm nicht nur die selbstverständliche Sinnlosigkeit dieses Satzes vorgehalten, sondern ihn auch gleich dahingehend korrigiert, dass zumindest die Kunst die Macht hätte, zu zeigen, worüber man eben nicht reden könne.

Die finnische Musikerin, Choreografin und Tänzerin Elina Pirinen scheint sich diesem Motto auf ihre ganz eigene Art zu verschreiben. Für ihre mittlerweile viel dekorierte Arbeit „Personal Symphonic Moment“ nimmt sie sich mit Schostakowitschs 7. Symphonie aus dem Jahr 1942, der berühmten „Leningrader“, ein Werk vor, das gerade in den Phasen größter ästhetischer Wucht auf das Moment der Anspielung setzt, ja setzen muss: den Faschismus vor den Toren und der Tyrannei Stalins im Inneren der Sowjetunion. Dort, wo Schostakowitsch zwischen zwei Diktaturen oszilliert, einer im Äußeren und einer im Inneren der Gesellschaft wirkenden, steht ihm nur das Moment der Anspielung zur Verfügung - allein weil es in seinem Fall nicht nur eine künstlerische Überlebensfrage ist.

Elina Pirinen "Personal Symphonic Moment" - [8:tension]

Timo Wright

„Personal Symphonic Moment“: Wie weit kann man die große politische Auseinandersetzung auf die Emotionen einzelner herunterbrechen?

Darstellen statt anspielen

Pirinen - als Finnin dank dem Komponisten Julius Sibelius auf musikalisches Pathos getaktet - reizen die in Schostakowitschs Musik angelegten Gefühlslagen, die sie auf das Netzwerk von drei im Raum agierenden Frauen transponiert. Auf der persönlichen Ebene soll diese Symphonie wirken. Und gleichzeitig will sie mit einer Ästhetik, die sich dem Zeigen, Darstellen und Hinschauen bis an die Schmerzgrenze verschreibt, all das ins Gesichtsfeld stellen, was der Komponist im Hintergrund seiner pathetischen Komposition verhandelt. Bilder wollen also just zum dekonstruktiven Moment bei Schostakowitsch gefunden werden.

Szenenausschnitt Performance Personal Moment von Elina Pirinen

Timo Wright

Darstellen und Zeigen mit aller Brachialität: Elina Pirinen und ihr Ensemble suchen mit aller Macht Bilder zum Unaussprechlichen.

Ein Marsch kommt aus dem Dunkel

Für den Marsch im Zweivierteltakt samt den einbrechenden Dissonanzen verzichtet Pirinen am Anfang allerdings auf jede Form der Bildlichkeit. Sie lässt den ersten Satz der Symphonie lange im dunklen Raum des überhitzten Wiener Odeons wirken. Wer sich hier drinnen bewegt, stirbt, scheint das Raumklima an diesem Abend zu flüstern - für das 70-minütige Durchhalten an diesem Abend gibt es ein zitterndes Odeon und die großartige Mariss-Jansons-Einspielung dieses Oeuvres als Belohnung.

Spät blenden die Scheinwerfer auf und unter ihnen und den Rauchschwaden der Schlacht treten drei Frauen auf (neben der Choreografin selbst die Tänzerinnen Kati Korosuo und Katja Sallinen), deren Handlungen rasch klarmachen: Viel Persönliches wird gar nicht übrig bleiben in den nächsten 60 Minuten.

Von der Statuenhaftigkeit des Anfangsblicks nach oben folgt die Selbstüberschüttung mit Flüssigkeit. Die an den Gesichtern herunterrinnenden Masken werden sich an diesem Abend halten. Alles, was hier als brachiales Gefühl zwischen Lust, Leidenschaft, Schmerz und Abgrund verhandelt wird, passt in Schablonen. Und es sind genau diese Schablonen, die eigentlich die Einordnung der Gefühlsausdrücke möglich machen.

Der durchgestrichene Mann

Der Nexus von Leidenschaft und Schmerz schließt das an diesem Abend ausgegrenzte Geschlecht mit ein. Hier ist der durchgestrichene Mann immer mit auf der Bühne und er scheint recht viele Normen vorgegeben zu haben, die gesprengt und malträtiert gehören.

Immer wieder reißen sich die Frauen die Kleidung vom Leib und zerren ihren Körper bis zur Schmerzgrenze hervor. Sexualisierung und Brutalität sind eng verzahnt. Das entblößte Hinterteil, der bis zur Schmerzgrenze hochgeschobene String bringt einen imaginären Penis auf der anderen Seite hervor. Darstellung und Anspielung werden hier eng geführt. Viel Interpretationsspielraum soll dem Publikum nicht gegeben werden - und wer zu lange starrt, dem fliegt an diesem Abend gleich mal ein Artefakt der Körpermalträtierung entgegen.

Veranstaltungshinweis

Elina Pirinens Performance ist im Rahmen von ImPulsTanz noch am 20. Juli im Wiener Odeon um 21.00 Uhr zu sehen.

Das Adagio des dritten Satzes nutzen die drei Frauen zur Überhöhung des Diskurses: Die ruhigen Phasen werden mit einer Mischung aus Sprechgesang, schräger Koloratur und Cultural-Studies-Slam gedoppelt. Hinschauen und Weghören und einmal mehr: bis es im Auge wehtut - das bleibt Programm. Ein Kinderchor lässt neben den ausgeschütteten Eiswürfeln, der über den Mausefallen ausgegossenen Milch das Abendlied von Matthias Claudius im Raum erklingen. Doch in diesem Moment drehen sich die Geschehnisse weiter - und die drei Frauen als heroisch glatte Figuren zum Finale der Symphonie, die durch das Odeon bebt: Es wird keinen Frieden geben, aber vielleicht zumindest eine Pause der Schlacht.

Gerald Heidegger, ORF.at

Links: