Sex, Crime und Schwulensauna
Newson ist einer, der gerne hinter die Fassaden blickt, einer, der unbequeme Wahrheiten ans Licht bringt und vor schwierigen Themen nicht zurückschreckt. Was der 57-Jährige mittlerweile jedoch scheut, sind öffentliche Auftritte. Aufgrund von Anfeindungen absolviert er diese meist mit einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze und großer Sonnenbrille.
Die Metamorphose von Text und Bewegung
Der vielfach ausgezeichnete australische Tänzer und Choreograph studierte Psychologie und Sozialarbeit, bevor er sich aufs Tanzen verlegte. Mit seiner 1986 gegründeten Compagnie DV8 Physical Theatre bringt er realistische wie ungewöhnliche und zugleich unterhaltsame Stücke auf die Bühne. Seit einigen Jahren konzentriert sich Newson verstärkt auf das Verbatim Dance Theatre – der Kombination von Text und Bewegung.

Kris Rozental
Hannes Langolf ist in „John“ in der Titelrolle zu sehen
Das spielerische Überwinden der Grenze zwischen Tanz und Theater gelang ihm und seiner Kulttruppe 2003 mit der im Burgtheater umjubelten Produktion „The Cost of Living“. Mit dem in katastrophalen familiären Umständen aufgewachsenen Briten John und der Umsetzung seiner Lebensgeschichte schafft er dieses Kunststück leider nicht mehr ganz so brillant.
Eine wahre Geschichte
Die Forschungs- und Kreationsphase für Newsons jüngstes Stück begann als Sozialstudie über 50 Männer. Er führte dazu mit allen Interviews und stellte sehr intime Fragen zu ihrem Leben, Liebe und Sex. Die Erzählung eines Befragten beeindruckte den Choreographen dermaßen, dass er sich schlussendlich auf ihn fokussierte. Die Geschichte der heute 52-jährigen Hauptfigur ist nicht erfunden, John Usher existiert ganz real.
„Meine Mutter war eine Ladendiebin. Sie nahm uns Kinder mit als Ablenkung. Sie hat auf Bestellung der Nachbarn Schuluniformen gestohlen – und um den halben Preis verkauft“, erzählt John. „Ich wurde 28-mal verurteilt, für 65 Delikte. Einmal wegen tätlichen Angriffs auf eine Person - einen Polizisten, den ich gestoßen habe -, wegen Eigentumsdelikten und Sachbeschädigung sowie 30 Diebstählen und zwölf Betrügereien.“
Der Brite John stammt aus katastrophalen familiären Verhältnissen: Der Vater prügelt die Kinder sowie die Mutter dermaßen brutal, dass letztere als Schwangere zwei Kinder verliert, vergeht sich an der eigenen Tochter und vergewaltigt den Babysitter. Sex, Gewalt, Kriminalität, Drogen, Obdachlosigkeit und Gefängnis bestimmen Johns Leben. Keine Biografie, mit der man gerne tauschen möchte.
Veranstaltungshinweis
Das DV8 Physical Theatre unter Lloyd Newson bringt „John“ noch am 7., 8., 9. und 10. August jeweils um 21.00 Uhr im Akademietheater zur Aufführung. Die Performance ist nicht geeignet für ein Publikum unter 18 Jahren.
Schwulensauna und andere Klischees
Die Drehbühnenkonstruktion zeigt immer neue reduzierte Szenen und lässt Johns Jugend sowie spätere Lebensjahre am Publikum vorbeiziehen. Die Akteure als choreographierte Körper, die bei der Darstellung eines Prozesses in Socken über die Bühne wischen und wie von Geisterhand verschobene Schachfiguren wirken. Auf die Vergewaltigung des Babysitters im engen Wohnungsgang erhascht das Publikum nur einen kurzen Blick. Rasch schafft die Bühne einen neuen Schauplatz.
„John“ besteht aus zwei Teilen. Ersterer findet abwechselnd in der Wohnung, auf der Straße und im Gefängnis statt, zweiterer ist eine Schwulensauna. Das Publikum wird wie bei einer Museumsführung durch die Räumlichkeiten begleitet: Porno Lounge, Privatkabinen, ein Riesenbett für bis zu 20 Personen (je nach Position), ein Glory Hole – das ins Deutsche uninspiriert übersetzt zur Klappenlochkabine wird.
Das neue Szenario untergräbt John’s anfängliche Behauptung, hetero zu sein. Die lange Namensliste der Freundinnen verklingt und John stellt sich als homosexuell heraus. Credo in der Schwulensauna ist: „Uns ist egal, wer du bist.“ So wird zwar einerseits Toleranz gepredigt, aber dennoch werden die Sexualpartner schwer schwanzfixiert nur nach Oberfläche und Waschbrettbauch ausgewählt.
Spannende tänzerische Übersetzungsarbeit
Die Suche nach einem geeigneten Hauptdarsteller gestaltete sich schwierig, denn die Anforderungen sind hoch. Aus 600 Performern wurde der Deutsche Hannes Langolf ausgewählt. Während der gesamten Aufführung gerät er weder außer Puste noch kommt er bei dem englischen, mit schönem Akzent gesprochenen Textgebilde ins Schwitzen – was nahezu ein Wunder ist.
Wer bei Newson viel Tanz erwartet, wird enttäuscht. Die gezeigten wunderbar flüssigen Bewegungen bilden neben dem Text vielmehr die für den Choreographen wichtige Metaebene. Entstanden sind die Bewegungen durch das wiederholte Anhören der Interviews. Die Tänzer improvisierten zum Gehörten ihre Bewegungen und wurden wochenlang dabei gefilmt, bis sich daraus ein eigenes Bewegungsvokabular entwickelte, das den Text übersetzt darstellt.
Mal wandelt John durch eine geisterhafte Welt voller statischer Figuren, ein anderes Mal vereinen sich zwei Körper zur Platon’schen Figur des Kugelmenschen der Antike. Arrangierte und choreographierte Bilder bilden eine kaleidoskopische Abfolge, die durch Bühne, Licht und Sound ergänzt und unterstrichen wird.
Audition für Welttournee
Lloyd Newson sucht noch Performer für die „John“-Welttournee. Die Audition dazu findet am 10.08. um 10.00 Uhr im Arsenal statt.
Ein Aufguss zu viel
Newson, der schon Anfragen zur gemeinsamen Arbeit von Madonna und Take That ausgeschlagen hat, packt viel in sein Stück. Viel Schönes findet sich darin, auch bleibt der Grundton trotz widrigster Umstände positiv und es wird kurzweilig erzählt. Komödiantische Einsprengsel bringen das Publikum immer wieder zum Lachen, dennoch fällt „John“ auseinander.
Womöglich sind die Performer besser als das Stück. Denn die Verflechtung der Lebensgeschichte des Briten mit der nachfolgenden Entdeckung seiner Sexualität ist nicht ganz stimmig. Die Anwendung Raymond Chandlers Korrektursatz „Kill your Darlings“ und eine Reduktion sowie Fokussierung auf nur ein Thema hätte dem Stück gut getan.
Zum Schluss spricht nicht mehr Langolf den Text, sondern plötzlich erklingt Johns reale Stimme von Band und sagt: „Ich habe so viel Liebe und Zuneigung zu geben, Lloyd.“ Er sinniert über die schöne Möglichkeit, nicht mehr zum Girlfriend, sondern zu einem Boyfriend nach Hause zu kommen. „Einfach zur Ruhe kommen. Die Normalität des Lebens.“ Möge es ihm gelingen.
Carola Leitner, ORF.at