Der unzensurierte „Rosenkavalier“
Seit der Uraufführung sind in Hugo von Hofmannsthals Libretto allzu anzügliche Passagen und Wörter gestrichen worden. Die Vierecksgeschichte von der Feldmarschallin, die ein Verhältnis mit dem 17-jährigen Adeligen Octavian pflegt, der sich in die junge Sophie verliebt, die wiederum dem Lüstling Baron von Ochs versprochen ist, bot den Zensurbehörden der 1910er Jahre einiges zu tun. In Salzburg ist jetzt alles zu sehen und zu hören. Nach der vierdreiviertel Stunden langen, heftig beklatschten Premiere lässt sich sagen: Die Wiederentdeckung hat sich ausgezahlt.

Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus
Regisseur Harry Kupfer verlegt die Handlung der Oper in die Entstehungszeit, ins Wien der 1910er Jahre
Vom 18. Jahrhundert ins Fin de Siecle
Regisseur Kupfer setzt in seiner Inszenierung auf graunebeliges Fin-de-Siecle-Ambiente, indem er die Handlung von 1740 in die Zeit der Uraufführung von 1911 verlegt. Das ist keine ganz neue Idee und eine Lesart, die durchaus Sinn ergibt, denn sowohl im Libretto als auch in der Partitur spiegeln sich einerseits Nostalgie, andererseits ein Bewusstsein für die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Aufbruchs wider.
TV- und Radio-Hinweis
ORF2 zeigt die Salzburger Inszenierung von „Der Rosenkavalier“ am 18. August um 22.20 Uhr, am 21. August um 22.24 Uhr ist die Produktion im Bayrischen Rundfunk (BR) zu sehen. Ö1 sendet die Radioaufzeichnung am 2. August um 19.30 Uhr.
Die Macht des Adels ist am Verblassen, das Bürgertum gewinnt an Einfluss und das, was bis dahin als arrangierte Vernunftehe (oder: Standardsituation) gesehen wurde, wird mehr und mehr zur Zwangsheirat. Was für die Feldmarschallin und den Baron von Ochs völlig normal ist, nehmen Octavian und Sophie schon nicht mehr hin - sie kämpfen darum, ihre Liebe selbst wählen zu dürfen.
Große Bühne, große Projektionen
In seiner Inszenierung schafft es Kupfer, diese Generationenwende psychologisch spürbar zu machen. Die Bühne von Hans Schavernoch vermittelt sowohl bildlich als auch atmosphärisch, wohin der Regisseur mit dem „Rosenkavalier“ will. Überdimensionale schräge Projektionen vom imperialen Wien beherrschen die Szene. Vor allem im ersten und zweiten Akt braucht es nur wenige Möbelstücke, um Räume anzudeuten, verhältnismäßig voll wird es dann im dritten Aufzug, wenn für die Verführungsszene ein Praterwirtshaus samt Wal auf dem Dach aufgefahren wird.
Doch egal, ob voll oder leer, Kupfer hat dank einer lebendigen Personenführung den riesigen Bühnenraum des Festspielhauses immer unter Kontrolle - auch bei den intimen Szenen, die im „Rosenkavalier“ ja nicht so selten sind.

Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus
Raumfüllende Projektionen statt aufwendiger Bühnenaufbauten
Die neu entdeckte Seite am Ochs
Ein Glücksfall für seine Inszenierung sind sicher die Sänger, die sich allesamt spielfreudig zeigen und sichtlich Spaß an der komischen Darstellung haben, ohne in Outrage zu verfallen. Die Rolle des Baron von Ochs wird hier dank der offenen Striche einmal anders gesehen als sonst üblich.
Neben unzähligen gestrichenen Details hielt sich eine besonders radikale Änderung nämlich bis heute hartnäckig: Jene, mit der sich der Baron als der Don Giovanni von Lerchenau outet. In seiner „Mägde-Erzählung“ zählt er in einer Registerarie (ähnlich wie Mozarts Liebesheld) die lange Liste seiner Eroberungen auf. Das waren aber eindeutig zu viele für die Zensoren, die die Hälfte der Arie streichen ließen.
Jetzt ist sie wieder da - und die Figur wird um einiges facettenreicher als bisher. Statt des stereotypen alten Tölpels darf Günther Groissböck bei seinem souveränen Rollendebüt einen Ochs spielen, der doch auch so etwas wie Charme besitzt. Seine hohle Selbstverliebtheit, Geilheit und die Vorfreude auf das ihn erwartende „lerchenauische Glück“ machen aus ihm aber noch lange keinen zu unterschätzenden Gegner.

Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus
Der Landadelige Baron von Ochs und seine ländliche Gefolgschaft mischen die feine höfische Gesellschaft auf
Abgeklärte Feldmarschallin
Der Ocatvian steht dem in dieser Inszenierung aber um nichts nach. Sophie Koch begeistert in ihrer Darstellung mit viel Witz - vor allem in den Verkleidungsszenen, in denen sie als Mariandel den Baron zuerst ungewollt, später gezielt bezirzt. Kochs Gesang zeichnet sich durch Wärme und Klarheit aus und beweist, dass ihr zartestes Piano genauso zur Verfügung steht wie strahlende Durchsetzungskraft. Letztere fehlte Mojca Erdmann vor allem in ihren ersten Szenen, bei denen sie Schwierigkeiten hatte, sich gegenüber dem Orchester durchzusetzen. Dennoch gab sie mit ihrer schönen lyrischen Stimme und sicheren Spitzentönen eine bezaubernd zarte Sophie.
Unter den Sängern den größten Applaus des Abends erntete aber Krassimira Stoyanova. Sie brillierte bei ihrem Rollendebüt und ist eine Feldmarschallin mit schöner, ebenmäßig geführter Stimme und eleganter Darstellung. Resignation scheint hier nicht das Motiv zu sein, wenn sie am Ende ihren Octavian weiterziehen lässt, vielmehr vermittelt sie einen klugen und unverbitterten Eindruck.
Zwischen Walzercharme und purem Sex
Den Wiener Philharmonikern unter Leitung von Franz Welser-Möst galt am Premierenabend die meiste Begeisterung. Ohne jede Kitschgefahr breitet das Orchester die Partitur in allen Facetten aus. Mit einem verhältnismäßig hoch geschraubten Orchestergraben ist die Lautstärke im Verhältnis zu den Sängern nur anfänglich zu dominant, findet sich dann aber in der Balance. Bravourös und mit hoher Qualität präsentiert sich hier Musikdrama zwischen Walzercharme, Nostalgie, purem Sex (die Ouvertüre!) und Attacke. Die feinsinnige und an Anspielungen reiche Sprache Hofmannsthals arbeitet Welser-Möst auch in der Musik präzise und gefühlvoll heraus.
Termine
„Der Rosenkavalier“ ist bei den Salzburger Festspielen noch am 5., 8., 11., 14., 17., 20. und 23. August zu sehen.
„Der Schluß muß sehr gut werden, sonst ist er schlecht“, schrieb Hofmannsthal 1910 an Strauss im Zuge der Korrespondenz im Entstehungsprozess des „Rosenkavaliers“. Mit dem Schlussterzett und -duett „Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein“ hat der Komponist den Auftrag wohl klar erfüllt und das möglicherweise schönste Frauenterzett der Opernliteratur geschaffen. In Salzburg darf man diesen Schluss jetzt am Ende einer glänzenden Inszenierung mit ausgezeichneter Besetzung erleben - sehr gut.
Sophia Felbermair, ORF.at