Pompöse Malaise aus dem Wienerwald
Horvaths „Geschichten" aus dem Jahr 1931 scheinen sich geradezu aufzudrängen, zu einer Oper gemacht zu werden, das Stück ist gespickt mit musikalischen Regieanweisungen: Immer wieder lauschen die Figuren Musik oder summen leise mit. Sie treten an, um zu singen, das Ensemble formiert sich zum Chor, der sich beim Heurigen alle möglichen Dinge zurufen kann.
„In der Luft ist ein Klingen und Singen"
Schon zu Beginn heißt es „In der Luft ist ein Klingen und Singen – als verklänge irgendwo immer wieder der Walzer ‚Geschichten aus dem Wiener Wald‘ von Johann Strauß“, der wie ein Leitmotiv immer wieder auftaucht. Daneben ertönen weitere Walzer, Volkslieder und Schrammeln, die sich allesamt wie ein kitschiges Idyll vor eine grauenvolle Wirklichkeit schieben, in der sich ein Frauenschicksal abspielt.

Bregenzer Festspiele/ Karl Forster
„Du wirst meiner Liebe nicht entgeh’n“, sagt der Gitarre spielende Oskar (Jörg Schneider)
Die Wiener Seele und ihre Abgründe
Die tragende Rolle der Protagonistin Marianne und vor allem die tragische Handlung sind es aber in erster Linie, die einen dankbaren Stoff für eine Oper bieten. Marianne, sie wollte „rhythmische Gymnastik“ treiben, was ihr der Vater untersagt hatte, lässt die Verlobung mit dem Fleischhauer Oskar platzen und wirft sich dem Playboy Alfred an den Hals: „Wie der Blitz hat es eingeschlagen.“ Sie bekommt ein Kind von ihm, muss sich aber selbst durchschlagen, wird Nackttänzerin und Beinahediebin. Schließlich wird ihr Kind von der bösartigen Großmutter durch eine auf den Tod berechnete „Luftkur“ ins Jenseits befördert.
Doch entgeht Marianne ihrem Oskar nicht, er kriegt die Sau schon noch, die er schlachten möchte. „Mariann. Ich hab dir mal gesagt, dass ich es dir nie wünsch, dass du das durchmachen sollst, was du mir angetan hast - und trotzdem hat dir Gott Menschen gelassen - die dich trotzdem lieben - und jetzt, nachdem sich alles so eingerenkt hat. Ich hab dir mal gesagt, Mariann, du wirst meiner Liebe nicht entgehn“, sagt er am Ende und trägt Marianne wie ein Opfertier von der Bühne - wohl einer der fatalsten Schlüsse der Weltliteratur.

Bregenzer Festspiele/ Karl Forster
„Wie der Blitz hat es eingeschlagen“ zwischen Alfred (Daniel Schmutzhard) und Marianne (Ilse Eerens)
Oskar spricht hier Sätze, wie sie in einem Groschenroman stehen können, er will sich zur bemitleidenswerten Figur machen, die an einen imaginären Zuseher mit seiner Phrase von Liebe appelliert. Doch unterläuft ihm eine Freud’sche Fehlleistung, denn er ist jenen Phrasen nicht gewachsen, über die er zu verfügen meint. Mit „du wirst meiner Liebe nicht entgehn“ möchte der biedere Fleischhauer keineswegs drohen, vielmehr möchte er seiner Rolle als enttäuschter Dulder Ausdruck verleihen.
Sprachkritik als Gesellschaftskritik
Wie Oskar sind bei Horvath alle Figuren Gefangene ihres klassenspezifischen Jargons, dem sie ausgeliefert sind und der sie zu schäbigen und verrohten Akteuren macht. Die Männer, allesamt Voyeure und Sittenrichter in einem, sind von den Emanzipationsversuchen Mariannes verstört. Sprachdiagnose wird zur gesellschaftskritischen Diagnose. Die Gesellschaft und alle ihre Deprivationen werden nicht erst mit Hilfe von Konfliktschemata oder einer Handlung dargestellt, sondern durch die Phrasen gegenwärtig.

Bregenzer Festspiele/ Karl Forster
Der Beichtvater (Markus Butter) gewährt keine Absolution
„Papa sagt immer, die finanzielle Unabhängigkeit der Frau vom Mann ist der letzte Schritt zum Bolschewismus“, erklärt Marianne, die eben nicht den ihr vorgeschriebenen Weg einschlägt. Ihre Verweigerung führt dazu, dass sich ihr die Gesellschaft verweigert. Marianne wird zum Opfer, das von der Generation vor ihr, dem Vater, und ihrer eigenen Generation, Oskar und Alfred, ausgebeutet und vernichtet wird.
Blickfang hinter Plexiglas
Das streng chronikalisch eingehaltene Prinzip des Textes erzeugt den Eindruck der Unentrinnbarkeit ihres Schicksals. Marianne geht auf das Ende zu, für das sie von Anfang an bestimmt war. Dem tragen auch Michael Sturmingers Libretto, das sich eng an Horvaths Vorlage hält, und Inszenierung Rechnung. Hier taucht die Protagonistin aus einem Nebel auf und verschwindet zum Schluss wieder im Nebel - dazwischen reiht sich in fließendem Wechsel Bild an Bild.
Eine Waldlandschaft weicht der Donau, diese einem Gemeindebau, einem Wiener Cafe und dann einem Landhaus vor einer Lärmschutzwand, der Stephansdom wechselt in ein Nachtlokal, dieses wieder zurück zum Gemeindebau und zur Lärmschutzwand. Projektoren werfen in einem raffinierten Überblendungsprogramm in weichen Übergängen immer neue Fotos auf eine große Leinwand, die sich als Blickfang hinter halbdurchsichtigen Plexiglasscheiben befindet – der Guckkasten als pandämonische Trickkiste: Das Publikum meint sich im Kino, ist aber in der Oper. Viel spricht dafür, dass sich hier eine Kunstanstrengung offenbart, die an der allzu glatten Plexiglasfassade ausrutscht, ihr kritisches Potenzial verliert und zu aha-seligem Kitsch gerät.
Spiel mit musikalischen Zitaten
Und ebenda strömt Grubers Musik hinein, die Elemente der Strauß-Walzer und Heurigenmusik mit dissonanter Harmonik und überraschenden Rhythmen kombiniert. Gruber spielt mit den vertrauten Um-ta-ta-Folklore-Nummern, die auch Horvath zitiert, verformt und verfremdet sie, als ob sie fehlerhaft, verstimmt, schräg klingen. Zugleich komponierte er den Gesang so nahe an Horvaths Text, dass Melodie und Sprechgesang immer wieder ineinander übergehen.

Bregenzer Festspiele/ Karl Forster
Klare Trennung zwischen Österreich- und Deutschtum: der Zauberkönig (Albert Pesendorfer) und Erich (Michael Laurenz)
Die kreative Fülle geht bei Gruber einher mit Opulenz, einer instrumentalen Farbigkeit und dynamischen Rhythmik, die an Igor Strawinsky erinnern. Das musikalische und textliche Quellenmaterial bekommt ein neues Kleid übergestülpt, das zwischen Sicheinlassen und Beobachten, zwischen Faszination und Parodie changiert, aber letztlich mit dem eben noch verfemten aha-seligen Kitsch dialektisch identisch wird.
Weitere Aufführungen:
Grubers „Geschichten aus dem Wiener Wald“ sind am 27. Juli und 3. August jeweils um 11.00 Uhr im Festspielhaus Bregenz und ab 14. März 2015 am Theater an der Wien zu sehen.
Wie Marianne Oskar verweigert Horvath Gruber die Verlobung. Nur im großen Finale gibt es gar keine Tonalität mehr. Die Oper endet in einer Art Antiliebesduett, bei dem Oskar mit Marianne seine fatalen Sätze singt, pompös im Stillosen, rücksichtslos-, ja rückhaltlos im Lärmigen. Diese Katastrophe strahlt keinen Schimmer von Katharsis mehr aus.
Armin Sattler, ORF.at
Links:
- Ö1-Übertragung zum Nachhören
- „Zartbittere“ Kritik für Opern-Uraufführung (vorarlberg.ORF.at)
- Bregenzer Festspiele
- Geschichten aus dem Wiener Wald (Wikipedia)