Wähler

APA/Barbara Gindl

Konflikte locken Wähler an

Politikverdrossenheit und Demokratiemüdigkeit mögen immer wieder als große gesellschaftliche Metathemen herhalten. Doch zumindest an diesem Wahlsonntag wurden Pessimisten in dieser Hinsicht eines Besseren belehrt. Die Wahlbeteiligung stieg so stark wie bisher noch nie in der Zweiten Republik.

Fast fünf Prozentpunkte wird die Wahlbeteiligung nach Auszählung aller Wahlkarten über dem Ergebnis von 2013 liegen. Zugegeben, vor vier Jahren machten besonders wenige Menschen von ihrem Wahlrecht gebraucht. Die damals 74,91 Prozent waren ein historischer Tiefststand.

SPÖ holt Nichtwähler zurück

Tatsächlich versammelten sich 2013 in der Gruppe der Nichtwählerinnen und Nichtwähler mehr Menschen, als irgendeine der Parteien Stimmen auf sich vereinigen konnte. Besonders viele ehemalige SPÖ-Wählerinnen und -Wähler entschieden sich damals, der Wahl fernzubleiben.

Hochgerechnete Zahlen

Die Zahlen der Wählerströme sind mit einer Portion Vorsicht zu genießen.

Sie basieren nicht auf Umfragen sondern werden auf Grundlage der vorläufigen amtlichen Endergebnisse in ausgewählten Bezirken, Gemeinden und Sprengeln hochgerechnet.

Wie das funktioniert, lässt sich auf der Website von SORA nachlesen.

Zumindest rein zahlenmäßig konnten die Sozialdemokraten einen Großteil der vor vier Jahren verlorenen Stimmen jetzt zurückholen. Rund 150.000 Menschen, die 2013 der Wahl ferngeblieben waren, machten laut Wählerstromanalyse heuer ihr Kreuz bei den Sozialdemokraten. Das erste Mal in 15 Jahren hat die SPÖ damit deutlich mehr Stimmen aus dem Pool der Nichtwählerinnen und Nichtwähler gewonnen als dorthin verloren.

Doch nicht nur der SPÖ gelang es, Menschen zurück an die Wahlurnen zu bringen. Auch das starke Stimmenplus bei der ÖVP geht immerhin zu einem Viertel auf ehemalige Nichtwählerinnen und Nichtwähler zurück. Rund 120.000 Stimmen gewann die Volkspartei aus diesem Reservoir. In etwa der gleichen Höhe konnte auch die FPÖ bei den Nichtwählerinnen und Nichtwählern punkten.

Ähnlichkeiten zu 1995

Einen ähnlich hohen Zuwachs bei der Wahlbeteiligung gab es in der Zweiten Republik erst zweimal: 1995 und 2002. Und tatsächlich lassen sich zwischen den beiden und der heurigen Wahl Parallelen ziehen. 1995 hatte - wie auch dieses Jahr – die ÖVP die Regierung mit der SPÖ aufgelöst. Und – auch das eine Gemeinsamkeit mit 2017 – es stand die Möglichkeit einer schwarz-blauen Koalition im Raum. Rund 140.000 Stimmen gewann die SPÖ unter diesen Voraussetzungen aus dem Lager der Nichtwählerinnen und Nichtwähler. Auch die FPÖ konnte dort mobilisieren. Rund 100.000 Nichtwählerinnen und Nichtwähler gaben ihre Stimmen 1995 der FPÖ.

Mobilisierungsfaktor Schwarz-Blau

2002 war die Ausgangslage zwar anders – und doch war das Thema das gleiche. Die Koalition zwischen ÖVP und FPÖ war bereits seit zwei Jahren Realität. Die Frage war, ob es zu einer Neuauflage kommen würde. Und tatsächlich konnten sowohl die SPÖ als auch die ÖVP Nichtwählerinnen und Nichtwähler im sechsstelligen Bereich mobilisieren. In Anbetracht der Wählerbewegung von der FPÖ zur ÖVP fiel die Wanderung von den Nichtwählern freilich kaum ins Gewicht.

Facebook-Affäre schreckte nicht ab

„Die Wahlberechtigung kann auch durch erhöhte Konfliktintensität steigen“, fasst es der Politologe Peter Filzmaier zusammen. Im Umkehrschluss könne „ein großer Konsens zwischen den Parteien“ das Gefühl mindern, „auf meine Stimme kommt es an“, so Filzmaier gegenüber ORF.at.

„Provokanter Vergleich“

„Eine Partei sagt, wir müssen in einen Krieg ziehen, und andere Parteien sagen Nein, das ist etwas, was wir uns absolut nicht wünschen“ - dann würden wohl sehr viele Menschen zur Wahl gehen, so Filzmaier.

Das mag auch erklären, warum die Facebook-Affäre um den SPÖ-Berater Tal Silberstein und die folgenden gegenseitigen Vorwürfe zwischen SPÖ und ÖVP die Wählerinnen und Wähler offensichtlich nicht abgeschreckt haben. Die Befürchtung wurde im Vorfeld der Wahl zumindest vereinzelt geäußert. Sie erwies sich freilich als genauso falsch wie die Annahme, dass die kleinen Parteien von dem Streit profitieren könnten. Grüne und NEOS konnten im Übrigen kaum Nichtwähler ansprechen. Und auch die Liste Pilz bekam - allen Ansagen von Peter Pilz zum Trotz - kaum Stimmen aus diesem Reservoir.

Martin Steinmüller-Schwarz, ORF.at

Links: