Holzfiguren der Parteien

ORF.at/Dominique Hammer

Die Wahl und das „Phantom der Mitte“

Volksnähe, Ablegen der eigenen Politbiografie - und ein Zug zur Mitte. Unter diesen Attributen steht der heimische Wahlkampf. Zieht man das Thema Zuwanderung ab, dann sind sich die meisten Parteien bei sehr vielen Themen einig. Sozialversicherungen: vereinfachen. Steuern: senken. Um wie viel, schwankt zwischen Berechnung, Voodoo und Versprechen. Dennoch sagen Experten: Zu viel Mitte kann ein Bumerang sein.

„Die sogenannte Herrschaft der Gesetze und die stabilisierende Rolle der Mittelschicht für die Gesellschaft“, schreibt der Historiker Reinhart Koselleck in seinem Aufsatzklassiker „Drei bürgerliche Welten?", gehöre seit Aristoteles und quer durch die Neuzeit zu den zentralen Merkmalen, um eine ‚bürgerliche Gesellschaft‘ zu charakterisieren.“

Ist die Mitte, wie „Falter“-Herausgeber Armin Thurnher aktuell schreibt, „der Versuch, sich per Kompromiss aus entstehenden Gegensetzen herauszuhalten und akzeptable, wenn nicht glückliche Lebensverhältnisse herzustellen, als linke und als rechte Mitte“? Der in Europa oftmals eingeschlagene „dritte Weg“ zwischen radikalem Markt und gelenktem Planungsstaat schien ja immer auf die Mitte und die Erhöhung des Wohlstandes möglichst breiter Bevölkerungsschichten ausgerichtet.

Und gerade im heimischen Wahlkampf fällt auf: Die Notwendigkeit, für die in der Mitte mehr zu tun, zieht sich wie ein roter Faden durch alle Statements - auch auf der ORF.at-Wahlcouch. Für die unteren Einkommen könne man ja nichts tun, die seien ohnedies schon befreit, wohl aber für die Mitte - so hörte man es aus Kandidatenmund. Für die Mitte mehr machen, damit am Ende wieder mehr überbleibt, hat man in Abwandlungen dafür mehr als einmal vernommen in dieser Wahlauseinandersetzung.

Konsens als Ideal der Mitte

„Der Konsens“, schreibt Thurnher, „ist ein Ideal der Mitte.“ Und unbestritten sprechen alle im Wahlkampf eines aus: Alle sollen „wieder mehr zum Leben haben“, sich „holen, was dir zusteht“, mehr überhaben, „um vielleicht auch was Eigenes oder ein Eigenheim“ zu schaffen. Dabei, so erinnert die Machtanalytikerin und Autorin Christine Bauer-Jelinek an soziologische Studien, sei die Mitte ein „so mysteriöser Begriff“.

Der schwierige Umgang mit der Mitte

Die Machtanalytikerin Christine Bauer-Jelinek benennt die Gründe, warum wir uns mit dem Begriff Mitte so schwertun, obwohl politisch die meisten Parteien dort unterwegs sind.

„Unter dem Begriff Mitte werden heute zwei unterschiedliche Ideen abgehandelt“, so Bauer-Jelinek im Gespräch mit ORF.at: „Das eine ist die politische Mitte, also der Bereich zwischen extrem linken und extrem rechten Positionen, das andere die soziologische Mitte, also jene Mittelschicht, das ist eine Zielgruppe im Gegensatz zur Unterschicht und zur Oberschicht.“

Bei der Idee der politischen Mitte falle auf, „dass es sie eigentlich nicht gibt“. Die Mitte meine hier eigentlich eine neoliberale Vereinnahmung, „das heißt Vereinnahmung von der rechten Seite“. Einen linken Rand, den gebe es in Österreich nicht. „Es gibt aber eine Kritik am Begriff der Mitte, der immer von links kommt. Tatsächlich sind alle nach rechts gerückt“, konstatierte die Autorin, die sich mit dem Phänomen Mitte auch in ihrem Buch „Machtwort“ auseinandergesetzt hat.

Das „Zerbröseln“ der Mitte

„Die soziologische Mitte, also diese Mittelschicht, die alle gerade gerne ansprechen wollen und der man durch Steuererleichterungen helfen will, ist eigentlich ein Phantom“, ergänzte Bauer-Jelinek ihre Überlegungen: „Diese Mittelschicht zerbrösle gerade, denn die einen haben Angst, aus dieser Mittelschicht abzusteigen oder rauszufallen. Und die anderen sind oben.“ Diese große Mittelschicht, die es mal gegeben habe, verschwinde im Moment. Viele fühlten sich nicht mehr angesprochen von der Politik. „Viele sind von den Abstiegsängsten bedroht, weil sie wissen, entweder du steigst auf oder du bist draußen, also die große Losung ist: up or out“, erläuterte sie ihren Befund.

Die Mitte und die vergessenen Ränder

„Wenn man sich die Angebote im Steuerbereich anschaut, dann dienen die der oberen Mittelschicht oder Oberschicht“, erinnert Bauer-Jelinek an die vergessenen Ränder der Gesellschaft.

Wer gehört nicht mehr dazu?

Für die Unterschicht konstatierte Bauer-Jelinek den Verlust eines Ansprechpartners: „Das sind die Menschen, die eigentlich resigniert haben. Man zählt sie noch zur Mittelschicht, aber sie gehören eigentlich nicht mehr dazu.“ Wenn man sich die Angebote im Steuerbereich anschaue, dann dienten die der oberen Mittelschicht oder der Oberschicht.

In der Gemengelage im Kampf um die Mitte wird nach Ansicht der Psychologin auch gar nicht mehr mit Inhalten gepunktet. „Die meisten Menschen können gar nicht nachvollziehen, was etwa die Steuerreformen für sie bedeuten. Wahlen werden heute auf einer symbolischen Ebene entschieden“, so Bauer-Jelinek.

Wahlen werden nicht mit dem Programm entschieden

Gewählt werde nicht nach Programmen, sondern die Entscheidung passiere auf der symbolischen Ebene, so die Machtanalytikerin.

„Mitte“, schreibt auch der Historiker Perry Anderson von der UCLA in seinem Buch „Spectrum“, „heißt regiert von Eliten in Verwaltung und Finanz auf Kosten der Ränder.“ Einer der Ränder wird nun stark vom rechtspopulistischen Diskurs geprägt, der aber ebenso in der Mitte angekommen ist bzw. ankommen will.

Ist die Mitte heute schon links?

Das konstatierte auch der österreichische Ökonom Stephan Schulmeister, in den Foren Sozialer Medien als „Sozialist“ oder „Marxist“ deklariert, der in einem jüngeren Facebook-Video reflektiert, dass sich die politischen Koordinaten seiner Meinung nach in einer politischen Großwetterlage übrigens seit den 1990er Jahren im Grunde so weit nach rechts verschoben hätten, dass etwa die Position der „christlichen Soziallehre“ auch mittlerweile weit links außen stünde.

Soziale Mahnungen von der Industrie

An die soziale Verantwortung als Grundlage für die Verbindung von Wirtschaft, Wachstum und Gesellschaft erinnerte jüngst auch der Präsident der Industriellenvereinigung (IV) und Unternehmer Georg Kapsch. Auf der „Darwin’s Circle“-Konferenz sprach er sich gegen den Hype um Start-ups aus und einen Wirtschaftszweig, bei dem die Chips der Finanzspekulation auf die Innovations- und Gewinnerwartungen von Firmen gesetzt würden, deren primärer Fokus ein Verkauf zu überteuerten Preisen sei.

Kapsch sprach sich für die Unterscheidung von „Real Enterprises“ und „Start-ups“ aus und gegen einen Markt, der mit künstlichen Preisstrukturen um den Verkauf von Start-ups kreise. Den Wettlauf um die Zukunft in einer Welt der Sozialen Netzwerke könne man nur gewinnen, wenn man den „sozialen Zusammenhalt“ nicht aus den Augen verliere. In diesem Kontext verlangte Kapsch aber auch einen Kulturwechsel. Man müsse sich verabschieden von einem Modell, in dem der Staat für alles sorge, hin zu einer Kultur, die mehr auf die Eigenverantwortung Einzelner setze. Die Position, die Kapsch hier einnimmt, hätte man früher wohl als klassische Mitte-Position oder die eines dritten Weges bezeichnet.

Der Kampf in der Mitte

Möglicherweise ist aber die Bestimmung der politischen Mitte auch deshalb so schwierig, weil sie das Herz der bürgerlichen Gesellschaft europäischer Prägung trifft, wie von Koselleck eingangs beschrieben. Wenn die unteren Schichten zum Aufstieg als Nah- oder Fernziel konditioniert sind, soll eine Ankunft in der Mitte der Gesellschaft wie das große Versprechen wirken.

Doch wer in der Mitte ankommt, wird nicht gemütlich gebettet. Hat Thomas Hobbes in der frühen Neuzeit die Gesellschaft als einen Zustand definiert, der über den Naturzustand und den „Kampf aller gegen alle“ hinausgeht, so hat sich spätestens mit Hegels „Allgemeiner Rechtslehre“ die bürgerliche Gesellschaft, immerhin Hegels großes Ideal, als Kampfplatz privater Interessen herausgeprägt. Oder anders gesagt: „Die bürgerliche Gesellschaft ist der davor nur gedachte Naturzustand.“ Während Hegel für die Interessensaustragung in der Mitte noch geordnete Verhältnisse andachte und immer an die Koppelung von „Willen“ und „Sittlichkeit“ dachte, lehrte die Entwicklung der Gesellschaft bis zur Gegenwart, dass die Mitte ein mitunter ungemütlicher Kampfplatz sein kann.

Gerald Heidegger (Text), Michael Baldauf, Dominique Hammer (Video), alle ORF.at

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